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Berlin behagt nicht

Ein Mädchen, das Skateboard fährt. Ein Bibliothekar an der Schwelle zur zweiten Lebenshälfte. Thilo Bock deklariert sein drittes Buch Tempelhofer Feld als »Freiluftroman« und bewegt sich mit seinem Plot übers Verlieben und Entlieben irgendwo zwischen Rosamunde Pilcher und Coming of Age.

Von Leonie Krutzinna

Sven ist Bibliothekar mit unvollendeter Promotion. An seinem vierzigsten Geburtstag sitzt er in der U-Bahn, ihm gegenüber die Studentin Luis mit Skateboard. Station Boddinstraße, sie steigt aus, er auch, läuft ihr nach bis zum Tempelhofer Feld und es folgen sechzehn assoziativ und anachronistisch erzählte Tage eines Sommers auf dem stillgelegten Flughafengelände, geprägt vom Verlieben und Entlieben. Zwischen Urban Gardening und Alkolholabsturz, Lebensfrust und Lebensgenuss verschmelzen Möglichkeiten und Tatsächlichkeiten.

Kein Herzschmerz-Eskapismus

Ein »Freiluftroman« möchte Thilo Bocks Tempelhofer Feld sein und in Verbindung mit dem Plot lässt sich mit eben dieser neu erfundenen Genrezuschreibung eine einigermaßen originelle Love and Landscape-Variation erwarten: Großstadt statt Cornwall, die Vereinzelung des postmodernen Individuums statt Familiensaga. – Schemaliteratur also, die keinen Herzschmerz-Eskapismus befriedigt, sondern uns über ein reales Setting die Gegenwart vorführt. So funktioniert das titelgebende Naherholungsgebiet mitten in Berlin als Stellvertreter für die Großstadtmenschen in ihrer ganzen stereotypen Breite: Hipster, Hippies, Ökos, Punks. Den Mikrokosmos Berlin zu erklären ist ein hochgestecktes Ziel.

Buch-Info


Thilo Bock
Tempelhofer Feld
Ein Freiluftroman
Fuchs & Fuchs Verlag, Berlin 2014
208 Seiten, 17€

 
 
Um die vermeintlich echten Berliner geht es also – deren Proteste gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes dieses Frühjahr gerade dann kulminierten, als Bocks Roman erschien, womit das Buch das Zeug dazu gehabt hätte (bzw. haben sollte?), die literarische Stimme der »100% Tempelhofer Feld«-Bewegung zu werden. Diesem Kondensat der echten Berliner begegnen wir durch Ich-Erzähler Sven, staunen mit ihm über inflationär übers Feld getragene Leinenbeutel, nippen am Szenegetränk Club-Mate und hoffen sehnsuchtsvoll von Tag zu Tag auf eine Begegnung mit Luis, die androgyn und ziemlich lässig mit dem Skateboard unterwegs ist. – All das nicht ohne eine leise Angestrengtheit in den Äußerungen dieses nicht ganz so hippen Menschen zu vernehmen: »Die Stadt vollzustricken scheint die neue Masche zu sein« (S. 89). Als »vintage« bezeichnet ihn Luis einmal, womit sowohl über Svens Frauenbild als auch seinen Charakter eigentlich alles gesagt ist.

Milieustudie mit Duden-Erklärung

Ein bisschen angestrengt witzig und dazu altklug hebt sich der Ich-Erzähler von der vor lauter Individualität ganz gleichförmig-grauen Masse zwischen Turnbeuteln, Skateboards und Hochbeeten ab. So erfahren wir beiläufig auch allerlei Historisches über das Tempelhofer Feld aus dem Mund des Protagonisten. Und bedient er sich dabei eines Fremdworts, wird gleich die Duden-Erklärung mitgeliefert. – Eigentlich eine witzige Idee, bloß macht der oberlehrerhafte erzählerische Zeigefinger den Protagonisten nicht sympathischer und vor allem auch nicht zum scharfsinnigen Milieustudierer, der er ja doch irgendwie sein will und soll. Leider bleiben noch dazu alle anderen Figuren eindimensional, einem Klischee verhaftet und somit bloße Projektion von Svens durchkategorisiertem Weltbild.

Man muss ein Buch nicht identifikatorisch lesen. Schließlich ist Thilo Bock nicht Rosamunde Pilcher. Es hat ja auch was Aufgeklärtes, wenn man der Skaterin Luis von Herzen wünscht, dass sie lieber Single bleibt als diesem bildungshuberischen Bibliothekar zu verfallen.

Das jedoch gehört noch zu den harmloseren Leseempfindungen, die sich bei Svens Milieustudien einstellen. Unverständlich wird es, wenn seine Erzählerstimme – rein um des Wortwitzes Willen? – einen konventionalisiert-rassistischen Tenor annimmt: »Sie deutet auf die Gruppe neben uns, hauptsächlich dunkelhaarige Männer, die mir spanisch vorkommen. Oder italienisch.« (S. 164)

Worthülsen ohne Rezeptionsintention

Spätestens jetzt drängt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck all dieser reproduzierten Klischees und leeren Worthülsen auf. Bestenfalls reicht es zur Dekonstruktion der sogenannten Jugendkultur, darüber hinaus lässt sich jedoch keine Rezeptionsintention erkennen. Obgleich doch die Potenziale des Bildungsromans im Plot angelegt sind, bleibt es beim späten Coming of Age dieses vierzigjährigen Mannes, der zwischen Familiengründung und Angst vorm Altsein feststeckt.

Am Ende kriegen sie sich übrigens nicht. Womit der Roman immerhin sein Rosamunde Pilcher-Image abstreifen kann. Wobei: Das ständige absatzeinleitende leitmotivische »oder anders« attestiert recht aufdringlich eine postmoderne Unverbindlichkeit. Das Unbehagen also bleibt.



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 Veröffentlicht am 16. Dezember 2014
 Kategorie: Belletristik
 skateboard von Aris Gionis via flickr
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