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Bitterböse Bühnenkunst

Seit 2009 entwickelt das boat people projekt in Göttingen Stücke rund um die Themen Flucht und Integration. Als interkulturelles Theater sucht die Theatergruppe der freien Szene vor allem den Dialog mit Menschen, die sonst nicht zu Wort kommen. Weil sie über Jahre im Status der Duldung leben. Weil sie am Rand der Gesellschaft stehen und am Rand der Städte wohnen. Zum Beispiel im »Rosenwinkel« in Göttingen.

Von Wieland Gabcke

Ein kleines Bühnenbild mit Sofas, Kamin und einem Vorhang, der diagonal den Raum teilt. Mehr braucht die Produktion Rosenwinkel der Gruppe boat people projekt und der musa nicht. Das Stück war ein voller Erfolg und lief Ende September zum letzten Mal in Göttingen. Nun geht es auf Reisen. Erste Station: Staatstheater Karlsruhe. Ganz genau so wie in Göttingen wird Rosenwinkel dort allerdings nicht mehr zu sehen sein, auch wenn das Stück überall funktioniert. Zeit, die Inszenierung im Haus der Kulturen noch einmal genauer zu betrachten.

Draußen ist drinnen

Beim Publikum herrscht zunächst Verwirrung, weil es von der Spielstätte nach draußen gebeten wird. Vor dem Haus der Kulturen stehen die Besucher*innen am Geländer und warten. Fünf Gestalten kommen das Kopfsteinpflaster des ehemaligen Kasernengeländes hinauf. Einer spielt Akkordeon, einer trägt eine Flagge, sie gehen langsam im Takt der melancholischen Musik. In zehn Metern Entfernung stellen sie sich dem Publikum gegenüber auf. Nach einer kurzen Pause ergreift der Darsteller Esat Behrami das Mikrofon und setzt zum Prolog an:

Seit mehr als sechshundert Jahren stehen wir immer aufs Neue vor den Toren der Stadt. Als Fremde, Reisende, Flüchtende. Ich passe auf, wenn jemand durch mich hindurch und auf mich herab sieht. Er sieht das Bild, das er sich von mir gemacht hat. Auf meine Stirn schreibt er: ›Zigeuner‹

Der Prolog ist räumlich getrennt vom Rest der Inszenierung. Er spielt sich draußen ab. Dem Publikum wird vor Augen geführt, dass es sich bei diesem Stück um ein Politikum handelt, das nicht zur abendlichen Unterhaltung im Raum des Theaters abgehandelt wird, sondern in der Außenwelt und der Gesellschaft verankert ist und dort eine Verbesserung der Situation der Roma anstoßen soll. Die Botschaft des Stücks soll nicht auf geschlossene Räume beschränkt, sondern nach Verlassen des Theaters mit nach Hause genommen werden, um gesellschaftliche Prozesse voranzutreiben.

Dem Publikum wird die lange Tradition der tief verankerten und eigenen Vorurteile gegenüber den Roma vor Augen geführt: Ein altes Wanderlied, »In das Dorf auf bunten Wagen zieht Zigeunervolk hinein« ertönt. Diese Konfrontation mit dem Publikum setzt sich im Laufe des Abends auf verschiedene Weise fort. »Was wollt Ihr denn?«, fragt der Charakter von Esat Behrami, »Wir haben keine Angst. Ihr habt Angst. Vor dem, was Ihr nicht seid.« Das Akkordeon setzt wieder ein und das Publikum folgt dem Ensemble in Richtung Bühne.

Bis das Lachen im Halse stecken bleibt

Der Raum ist eng, das Publikum nimmt auf Stühlen aus Grundschulzeiten Platz. Der diagonale Vorhang geht zu, am Ende des Vorhangs sitzt eine Beamtin. Auf Anordnung des Innenministers lehnt sie einen Abschiebestopp ins Kosovo ab. Ein junges Mädchen möchte einen Pass beantragen. »Meine Heimat ist der Rosenwinkel«, sagt sie. »Aber deine richtige Heimat ist der Kosovo«, antwortet die Beamtin. Dort wäre sie noch nie gewesen, sagt das Mädchen, worauf die Beamtin entgegnet: »Dann wird’s aber Zeit!« und »Der Rosenwinkel liegt meines Wissens nicht regulär in Deutschland.«

Das Publikum lacht. Wegen der absurden Behördensprache? Die Situation in der Ausländerbehörde ist tatsächlich absurd, vielleicht unfreiwillig komisch, aber aus dieser Absurdität heraus wird über Schicksale entschieden. Es ist diese Art des schwarzen Humors, die das Publikum zum Lachen bringt, aber gleichzeitig auf bedrückende Weise zum Nachdenken anregen soll. Schwarzer Humor zieht sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Stück, bis dem Publikum das Lachen im Halse stecken bleibt. Dieses Stilmittel ist sehr effektiv, die Dialoge dazu pointiert und von hoher inhaltlicher Dichte. Auf diese Weise wird dem Publikum die Brisanz der Situation der Roma, die teilweise seit Jahrzehnten mit einem im Monatsrhythmus verlängerten Duldungsstatus in der Bundesrepublik leben, deutlich gemacht: »Ich bin Rolf«, sagt Izedin Alishani, »49 Jahre alt und lebe seit 65 Jahren in Deutschland in der Duldung.«

Wer ist Deutsch, wer ist Roma, wer ist Mensch?

An dieser Stelle wird der zweite Kunstgriff dieser Inszenierung deutlich: Das Spiel mit Identitäten. Auf einmal wird der Roma zu einem »Deutschen« namens Rolf, der seit Jahrzehnten in der Duldung lebt. Im Verlauf des Stücks wird dieses Motiv immer weiter forciert, der Spieß umgedreht: Die junge Amanda wird zum Innenminister und beschließt ein dauerhaftes Bleiberecht für Roma, während sich eine »junge Deutsche« den Passkontrollen und Schikanen der Behörden ausgesetzt sieht. Diese Zuspitzung mündet schließlich in einem Monolog dieser deutschen Frau, die in einem Bus fährt und über die Gleichheit und Ähnlichkeit von Roma und Deutschen und der Menschheit allgemein nachdenkt.

Die Erzählung verläuft nicht chronologisch, aber gleichzeitig entlang dieses wiederkehrenden Motivs der Busreise. Auch hier wechseln die Perspektiven unterschiedlicher Identitäten: Mal reist das junge Roma-Mädchen Amanda mit dem Bus durch den Kosovo, mal die deutsche Frau auf der Fahrt durch Göttingen. Die Übergänge zwischen den Episoden sind manchmal klar erkennbar, manchmal jedoch ebenso verwirrend. Die zerstückelte Erzählung macht es dem Publikum nicht immer leicht. Es ist viel Konzentration gefragt, um die Zusammenhänge zu begreifen. Zudem enthält das Stück viele kulturelle, politische und historische Referenzen, die unmöglich alle sofort erkannt und erinnert werden können. Aber gerade sie sind es, die Rosenwinkel auszeichnen, weil sie die umfassende Geschichte und derzeitige Situation der Roma zielgenau auf den Punkt bringen.

Das Stück

Rosenwinkel
Premiere 08. Juli 2012, 19:30 Uhr im Haus der Kulturen, Hagenweg 2E
Text und Regie: Luise Rist und Nina de la Chevallerie
Musik: Hans Kaul
mit Izedin Alishani, Esad Behrami, Martina Hesse, Anita Osmani

 

Rosenwinkel


Der Rosenwinkel ist die Straße, in der in Göttingen die Roma angesiedelt wurden. »Den Rosenwinkel gibt es in jeder Stadt, Straßen, deren Namen schön klingen, in deren Häusern es aber noch keine Heizungen gibt.«
 
 
Episodenwechsel. Die Möbel werden schnell umgebaut. Eine Alltagsszene aus dem »Rosenwinkel«, bei der es darum geht, wer die Hosen an hat: Zu Ragtime-Klängen aus der Feder des Komponisten und Musikers Hans Kaul, der im Hintergrund für die musikalische Begleitung des Stücks sorgt, folgt eine Slapstick-Szene in der Tradition des Stummfilms. Auf einmal spielt Martina Hesse, nun mit blonder Perücke, Heidi Klum, die »Germany’s best Refugee« moderiert. Hier wird deutliche Medienkritik geübt: Ein Flüchtling, der nicht arm, hungernd und leidend aussieht, kann nicht medial vermarktet werden. Die Szene verschwimmt, aus Heidi Klum wird eine Roma namens Mirsade. Charaktere verändern sich fast im Minutentakt. Elvis Presley, Charlie Chaplin, und viele andere waren Roma, und haben sich verleugnet, heißt es. Wo die Frage von Identität an anderer Stelle politisch abgearbeitet wurde, geschieht es in dieser Szene nun über Kultur.

Die reiche Fülle an Referenzen, das verdichtete Erzählen sowie die tragikomische, abwechslungsreiche Inszenierung machen das Stück Rosenwinkel sehenswert. Die Darstellung wird durch die brillanten Kompositionen von Hans Kaul und Izedin Alishani weiter vertieft, mal auf komische, mal auf melancholische Weise. Das Ensemble ist perfekt aufeinander eingespielt, beeindruckend ist vor allem die 12-jährige Anita Osmani in der Rolle der Amanda. Videoinstallationen aus dem Rosenwinkel mit tatsächlichen Aufnahmen aus ihrem Familien- und Freundeskreis lassen die Grenzen zwischen Rolle und Person verschwimmen. Das Schicksal von Amanda ähnelt dem von Anita. Beide sind hier geboren und aufgewachsen, beide besitzen eine »Aussetzung der Abschiebung«, wie die Duldung im Beamtendeutsch heißt.

Die episodenhafte Erzählung nimmt das Publikum mit auf eine Reise, auf eine virtuelle Busreise. Dabei wird der Mehrheitsgesellschaft immer wieder der Spiegel vor Augen gehalten, so wie es gutes Theater machen muss. Etwas diffus und pathetisch wirkt dagegen der Monolog am Ende, was dem Stück aber keinen Abbruch tut: Der Erkenntnisprozess der »jungen Deutschen« auf der Bühne, die durch das Theater in die Situation der Roma versetzt wurde, überall kontrolliert wird und ständig den Behörden ausgesetzt ist, kommt beim Publikum an. Bleibt zu hoffen, das die politischen, kulturellen und historischen Erkenntnisse dieses Abends nicht im Haus der Kulturen vom Publikum zurückgelassen wurden.



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 Veröffentlicht am 4. Oktober 2012
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