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Das Durchgangssyndrom

Siri Hustvedt bietet in ihrem Roman Der Sommer ohne Männer einen Einblick in die Emotionen und die Gefühlswelt einer Frau wie er ehrlicher, authentischer, aber auch leichter nicht sein kann. Die 55-jährige Mia Fredricksen wird nach 30-jähriger Ehe von ihrem Mann Boris verlassen. Dem Ehebruch folgt ein Zusammenbruch und löst zudem eine vorübergehende Gehirnstörung aus, genannt das Durchgangssyndrom. Mia ist gezwungen, sich neu zu orientieren und so macht sich die erfolgreiche Lyrikerin auf eine Reise zu sich selbst – Immer in Begleitung ihres messerscharfen Intellekts. Das sorgt für anspruchsvolle Unterhaltung auf höchstem Niveau.

Von Sarah Schädler

Es gibt kaum einen Literaten oder Philosophen, dessen Werke Mia Fredricksen nicht gelesen hat. Sie ist eine Denkerin. Eine Intellektuelle, »die in einem Atemzug Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur herbeizitieren konnte«. Was auf den ersten Blick daherkommt wie ein typischer Frauenroman, entpuppt sich als philosophische Reise durch die Höhen und Tiefen des alltäglichen Lebens: Egal ob Ehebruch, Mobbing oder Selbstmord im Bekanntenkreis, keines dieser Ereignisse lässt den Menschen unberührt. In Der Sommer ohne Männer werden viele Themen behandelt. Der Fokus liegt dabei jedoch immer auf der Protagonistin. Sie versucht mit ihrem bestens ausgebildeten Verstand ihre ganz persönlichen Tragödien mit Hilfe von Freud und Kierkegaard sowie durch anregende Akademikerdebatten mit dem mysteriösen Mr. Niemand zu verarbeiten.

Verrückt, aber nur vorübergehend

Trotz ihres ständig arbeitenden Gehirns erzählt Mia ihre Geschichte auf liebenswerte, authentische und verständliche Art und Weise. Ihr Mann hat sie verlassen. Nein. Er will eine Pause – und diese Pause hat ein Gesicht. Sie ist Boris´ Assistentin, Französin und viel jünger als die gestandene Universitätsdozentin. Mia kann nicht anders, sie erleidet einen Zusammenbruch. Ein Schicksal, das vielen Frauen bekannt ist. Aber das besondere im Fall Mia ist, dass es nicht bei einem einfachen Zusammenbruch bleibt. Sie erleidet eine vorübergehende Gehirnstörung, entwickelt einen Verfolgungswahn und findet sich kurz danach in der Psychiatrie wieder. Die Diagnose der Ärzte lautet: Durchgangssyndrom. Das »bedeutet, dass man wirklich verrückt ist, aber nicht lange.« Nach einigen Wochen darf Mia die Psychiatrie wieder verlassen und nimmt sich eine Auszeit. Sie verlässt die gemeinsame Wohnung in Brooklyn und fährt den Sommer über nach Hause in das »Provinznest« Bonden, Minnesota, in dem sie aufgewachsen war. Dort angekommen mietet sich Mia ein kleines Haus am Stadtrand, ganz in der Nähe des Altenheims, in dem ihre 90-jährige Mutter nach dem Tod des Vaters ein neues Zuhause gefunden hat.

Buch-Info


Siri Hustvedt
Der Sommer ohne Männer
Rowohlt: Berlin 2011
304 Seiten, 19,95€

 
 

Mia macht sich keine Illusionen. Es wird einige Zeit dauern, bis sie ihr Leben wieder im Griff haben wird. Sie verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter und muss erkennen, dass ihr die alte Dame das ein oder andere Detail über ihre Familiengeschichte bisher verschwiegen hat. Im Gegensatz zu ihrer jüngsten Tochter ist die 90-jährige zäh und standhaft. Trotz ihres hohen Alters besucht sie mit ihren vier Freundinnen George, Abigail, Regina und Peg regelmäßig den Literaturzirkel im Altenheim. Die kleine Frau entpuppt sich als Stütze für das gebeutelte Kind, das schon in frühen Jahren als »hypersensibel« galt. Es ist aber nicht nur ihre Mutter Laura, die Mia die Vergänglichkeit des Lebens näher bringt, sondern auch deren vier Freundinnen George, Abigail, Regina und Peg, die der Gedächtnismaschine in ihrem Selbstfindungsprozess hin und wieder auf die Sprünge helfen.

Die fünf lebten in einer intensiven Gegenwart, weil sie, anders als die Jungen, die sich mit ihrer Endlichkeit auf eine distanzierte, philosophische Weise auseinandersetzen, eben wussten, dass der Tod nicht abstrakt ist.

Ohne Männer geht es nicht

Obwohl der Titel Der Sommer ohne Männer auf einen tatsächlich männerfreien Sommer schließen lässt, entspricht das nicht ganz der Wahrheit, denn einer ist immer präsent: Boris. Wenn auch nicht physisch anwesend, so dominiert der davongelaufene Ehemann die Gedankenwelt der verschmähten Ehefrau. Ist er ein Monster oder das Opfer? Relativ früh berichtet Mia vom Selbstmord, den sein jüngerer Bruder Stefan begangen hat. Boris hat Stefan tot in dessen Wohnung aufgefunden. Mia fährt zu ihm. »Er weinte nicht; er knurrte in meinen Armen wie ein verwundetes Tier.« Keine Überraschung, denn Boris weint nur im Kino.

Die komplexe Psyche des Ehemannes bleibt ein Mysterium, bis Mia eines Tages eine flehende Email von Boris erreicht. Er will sich mit ihr treffen. Er will mit ihr reden, aber Mia bleibt skeptisch. Schließlich wird klar: Die Pause hat sich von Boris getrennt. Keine gute Ausgangsposition für den reumütigen Ehemann, denn Mia hatte sich mittlerweile von ihm gelöst. Ein Teil von ihr hatte begonnen, sich an ein Leben ohne Boris zu gewöhnen, wovon niemand schockierter sein konnte als sie selbst.

Mit der Zeit begriff ich, dass Boris viel direkter auf Indirektes reagierte, seine wahren Gefühle kamen also nur durch Irreales vermittelt an die Oberfläche.

Auch die anderen Männer in Mias Leben – die vor Boris – tauchen auf. Um sich darüber klar zu werden, dass sie auch vor ihrer Ehe ein erfülltes (Liebes-)Leben gehabt hat, beginnt Mia ein Sextagebuch zu schreiben. Ein Tagebuch, in dem sie all ihre erotischen Erfahrungen bis zu ihrer Ehe protokolliert. Angefangen bei sexuellen Übergriffen im Kindesalter, über die erste Liebesnacht mit einem Unbekannten bis zu erotischen Schäferstündchen in der Universitätsbibliothek wird alles notiert. Am Ende bleibt Boris. Der Vater ihrer geliebten Tochter, ihr Weggefährte über so viele Jahre, mit dem sie eins geworden war. Boris, der sich nicht ändern konnte. Aber Mia hatte sich geändert, sie ist zu sich zurückgekehrt.

Der Sommer ohne Männer ist kein Frauenroman à la Rosamunde Pilcher, denn es geht um mehr als um die Sehnsucht nach der wahren Liebe. Es ist eine Hommage an die Unabhängigkeit der modernen Frau. Mia Fredricksen ist eine erfolgreiche Frau, die sich über 30 lange Ehejahre in ihrer Rolle als Ehefrau selbst verloren hat. Mia und Boris waren eins geworden. Aber in Mia steckt mehr als die liebende Ehefrau, die ihrem Mann mit Rat und Tat zur Seite steht, um dann in seinen literarischen Werken mit einer Standardfloskel abgespeist zu werden. Die feministischen Tiraden der Protagonistin verkörpern jedoch keine Absage an die Männlichkeit an sich. Anstatt dem Manne nachzueifern soll sich die Frau auf sich selbst besinnen. Der Sommer ohne Männer ist eine Absage an den Geschlechterkampf und eine Hymne an die gelebte Weiblichkeit. Ein Lesevergnügen bei dem jede Leserin eine charakterstarke Figur finden wird, mit der sie sich identifizieren kann. Wem Siri Hustvedts frühere Werke Was ich liebte und Die zitternde Frau – eine Geschichte meiner Nerven bekannt sind, wird auch von diesem Erguss ihrer Feder nicht enttäuscht sein.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 20. September 2012
 Kategorie: Belletristik
 Foto von jennie from the block via flickr
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