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Den Staub zu ehren

Jan Koneffke schildert in seinem Roman Eine nie vergessene Geschichte (DuMont, 2011) mit gelungenem erzählerischen Kalkül eine vier Generationen umfassende Familiensaga vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Schauplatz ist Freiwalde, ein Ostseedorf in Pommern.

Christoph Sandfort

Jan Koneffke hat sich ein großes Pensum vorgenommen. Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 1945 reicht die Saga der Kannmachers aus dem Pommerschen Ostseestädtchen Freiwalde, erzählt von einem Nachgeborenen, der entschlossen ist, die Leerstellen der Familiengeschichte zu füllen. Auslöser seiner Erzählung ist der Tod der Großeltern und das Schicksal des Großonkels Felix, der zusammen mit drei Brüdern in Freiwalde aufwächst.

Hals über Kopf ergreift ebenjener Felix 1926 die Flucht, um einer unzumutbaren Doppelhochzeit zu entgehen. Sein Bruder Ludwig – ein »praktisch veranlagter, kraftvoller Mensch« – hatte ihm seine Braut Emilie ausgespannt. Statt ihrer sollte er deren Schwester Alma heiraten, eine auf schwer erträgliche Weise hysterische Person, die man heute Zicke nennen würde. Das war mindestens eine Kränkung zu viel. Felix, dessen pianistische Begabung zumindest im pommerschen Kleinstädtchen Freiwalde, irgendwo zwischen Stettin und Danzig gelegen, ein gewisses Aufsehen erregte, schloss sich einem durchreisenden Klaviervirtuosen an und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Ein paar Briefe trafen noch bei seiner Familie ein, die jedoch eisern ignoriert wurden. Verstoßen – denn wer seine Braut im Stich lässt, hat die Ehre der Familie beschmutzt.

Wurmstichiges Holz

Das Sich-Selbst-Herausstemmen aus der Heimat, die Flucht vor starren Fesseln, wird zum zentralen Thema des Romans – Koneffke erzählt dies alles mit langem Atem und einer freundlichen Ironie, ohne seinen Figuren den nötigen Ernst abzusprechen.

Buch

Jan Koneffke
Eine nie vergessene Geschichte
DuMont Verlag, Köln, 2011
320 Seiten, 9,99€

 
 
Auf einer zweiten Erzählebene schildert der Roman die Geschichte der Familie Kannmacher. Diese beginnt 1896, als der Lehrer Leopold Kannmacher der pommerschen Hauptstadt Stettin den Rücken kehrt und sich mit seiner Frau Clara im Provinzort Freiwalde an der Ostsee niederlässt. Während er – ein belesener Kantianer, der Kaiser Wilhelm verabscheut – bald unter der kriegslüsternen Stimmung seiner Landsleute leidet, kommt seine Gattin mit der kulturfernen Miefigkeit ihrer Umgebung nicht zurecht. Leopolds Ehefrau neigt zu krankhafter Erregung und lässt sich von der nationalistischen Hysterie anstecken. Dass einer ihrer Söhne im Ersten Weltkrieg umkam, will sie nicht wahrhaben und rettet sich in den Wahn.

Ihr Sohn Felix stürzt sich indes 30 Jahre später in seelisches Elend, als seine Mutter die Klaviersaiten bei der Sammelstelle für kriegstauglichen Rohstoff abliefert. In der Familie gilt Felix wegen der verlassenen Braut und seiner niederschmetternden Laufbahn vom Dorforganisten zum Kaschemmenpianist als schwarzes Schaf, über das man nicht spricht. Zu groß war die Enttäuschung über dessen Flucht, zu stark die Scham über das Geschehene. Nie hat seine Braut, die sich schon früh zu einer strammen Nationalsozialistin entwickelt, ihm seine Flucht verziehen. Ihre glücklich verheiratete Schwester, mit deren Familie sie über weite Phasen ihres Lebens zusammenlebt, muss ihre Launen und Grausamkeiten ertragen.

Jan Koneffke ist ein versierter Erzähler, der keine Schwierigkeiten hat, Erzählstränge miteinander zu verknüpfen und überraschende Wendungen plausibel zu machen. Wie es sich für einen Familienroman gehört, wimmelt es von »originellen« Charakteren, die durch ihr Äußeres oder ihre Sprache einen hohen Wiedererkennungswert besitzen. Leopold räsoniert beständig über das dem Untergang geweihte »wurmstichige Holz, das sich Menschheit nennt«; da lässt Postkutscher Weidemann – »Es kommt schlimmer, als es bereits ist« – seinem Geschichtspessimismus freien Lauf, und da mahnt das Hausmädchen Mathilde zivilisatorischen Anstand an: »Wir kommen ja nicht aus der Walachei.«

Koneffke erzählt mit großer Liebe zum Detail von dem, was den Alltag und die Phantasie der Kannmachers bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ausmacht. Als diese nach Kriegsende in Schleswig-Holstein wieder zusammenfinden, gelingt es dem Autor allerdings nicht mehr, sich diesem neuen Lebenskosmos mit der gleichen Sorgfalt zu widmen, und er setzt zu einem Schnelldurchlauf an.

Zwischen reiner Vernunft und Wahnsinn

Dennoch entwirft dieses Familiendrama mit sicherem Erzählton das Psychogramm einer Epoche, deren Schatten allmählich am historischen Horizont verschwindet: die Enge der Jahrhundertwende, die anfängliche Kriegsbegeisterung, dann der Schock des Ersten Weltkrieges, die herannahende Nazizeit, die harte Disziplinierung der Kinder, der Aufstieg vom Volkschul- zum Hochschullehrer, der für den Kant-begeisteren Enkel nach dem Zweiten Weltkrieg möglich ist – ein narratives Geschichtsbuch, das anhand einer Familiengeschichte erzählt wird.

So bewegt sich diese Familie zwischen den Koordinaten von reiner Vernunft und Irrsinn. Das erzählerische Kalkül ist erkennbar, Figuren sind nicht nur sie selbst, sondern immer auch typische Vertreter bestimmter politischer Strömungen: etwa Onkel Alfred, der in Afrika gegen die Hereros kämpft, sich nach dem Ersten Weltkrieg einem Freikorps anschließt und schließlich zu einem glühenden Anhänger des Nationalsozialismus wird.

Trotz ihrer illustrativen Funktion sind Koneffkes Figuren einprägsame, lebendige Gestalten. Die Kraft des Erzählers beweist sich daran, dem festgelegten Programm Freiräume abzutrotzen. Gelegentlich weitet er seinen Realismus ins Mythische und Surreale, wenn er beispielsweise den alten Schäfer, der unbeweglich auf der Weide steht, in einen knorrigen Baum verwandelt oder wenn er eine Kräuterfrau die Zukunft voraussagen lässt.

Traum eines Fremden

In der vierten Generation dann unternimmt der Erzähler mit seinem alten Vater Konrad, dem Sohn von Emilie und Ludwig, eine Reise nach Freiwalde. Hier erst zeigt sich, wie fern die Epoche selbst den Zeitzeugen geworden ist. »Wenn man seiner Erinnerung zu nahe kommt, (…) verschließt sie sich und wird zum Traum eines Fremden«, resümiert der alte Herr gegenüber dem Sohn die Wiederbegegnung mit den Stätten seiner Kindheit.

Die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation ist fließend, und so nimmt sich der Erzähler im Gespräch mit dem Vater vor, das Leben vom verschollenen Großonkel Felix und seiner Familie, so, wie wir es gerade gelesen haben, zu erfinden – zu keinem anderen Zweck, als »um den Staub zu ehren«, wie Großmutter Kannmacher zu sagen pflegte.

Warum schreibt man so eine Geschichte? Der Erzähler stellt sich am Ende selbst diese Frage und gibt ehrlich zu, »keinen Schimmer« zu haben. Vielleicht, weil er besser einschlafen kann, wenn er sich Geschichten ausdenkt. Vielleicht, um dem Sinnlosen einen Sinn zu geben.



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 Veröffentlicht am 2. April 2015
 Kategorie: Belletristik
 zurücksehen von Jan Paul Arends via Flickr
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 Dr. Marron Fort
 7. April 2015, 11:15 Uhr

Besonders klar und verständlich geschrieben ohne literarischen Firlefanz.

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