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Die ganze Wahrheit?

Norbert Gstrein las am 28.09.10 im Literarischen Zentrum aus seinem neuesten Roman Die ganze Wahrheit und redete mit dem Göttinger Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser über Wahrheit, Moral, Sprache und den moralischen Anspruch eines unmoralischen Buches.

Von Florian Pahlke

Die Räumlichkeiten des Literarischen Zentrums waren erstaunlich leer. Obwohl der Name Norbert Gstrein aufgrund seines neuesten Buches seit Monaten in den Feuilletons der Zeitungen auftaucht und kontrovers diskutiert wird, fand sich nur eine kleine Runde von interessierten Zuhörern ein. Sein Roman handelt von der zum Theatralischen neigenden Verlegerswitwe Dagmar, die ein Buch über den »Sterber«, ihren Mann Heinrich Glück, geschrieben hat. Der Ich-Erzähler Wilfried, ein ehemaliger Lektor des Verlages, plant ein Gegenbuch, nachdem er sich mit seiner ehemaligen Chefin überworfen hat. Dieses Gegenbuch hält der Leser nun in den Händen, und dass die Konstellation »an eine Konstellation im Suhrkamp Verlag erinnert«, darüber ist sich auch der Autor bewusst. Auch wenn er bestreitet damit einen Schlüsselroman geschrieben zu haben, der auf Ulla Unseld-Berkewicz’ Buch über ihren verstorbenen Verlegergatten Siegfried Unseld abzielt, ist seitdem die Grundlage gelegt für die heftige Debatte darüber, ob ein solches Buch moralisch tragbar ist.

Nach einigen einleitenden Worten Gerhard Kaisers, um mit dem Schaffenswerk Norbert Gstreins vertraut zu machen, begann Norbert Gstrein damit, einen ersten Abschnitt aus seinem Buch Die ganze Wahrheit vorzulesen. Ruhig und zurückhaltend, dabei aber immer auf den Text und seinen Inhalt fokussiert, trug Gstrein die antiamerikanischen Äußerungen der Verlegerswitwe Dagmar, welchen Wilfried, der geschasste Lektor des Verlagshauses, am Radio lauscht, vor. So ruhig Gstrein diese Passagen vorlas, seine eindringliche Stimme und leichte Räusperer an einigen Stellen verdeutlichten die Brisanz des Stoffes. Dass das Thema Unseld bei diesem Buch nicht außen vor bleiben kann, war von vorneherein klar. Dankenswerterweise sollte dieser Themenbereich jedoch so klein wie nötig gehalten werden und so ging es von der völlig überzogenen und unpassenden Amerikakritik Dagmars erst einmal zu der Feststellung, dass die ganze Wahrheit nie ein einziger Mensch schreiben könne.

Immer wieder sollte an diesem Abend der Begriff der Wahrheit fallen, und interessant schien dabei das Projekt Gstreins zu versuchen, wie nah Fiktion dieser kommen kann, ohne selber zur Wahrheit zu werden. Ausgehend davon nahm man dem Autor auch ab, dass sein Buch eben kein Schlüsselroman zu Suhrkamp ist, wie häufig behauptet wird, sondern nur Fiktion zeigt und der Titel Die ganze Wahrheit daher eindeutig ironisch zu verstehen ist.

Fast schon schelmenhaft schmunzelte der Autor bei der Aussage, dass das Thema Unseld mit dem Scheitern von Wilfrieds Gegenentwurf zu Dagmars glorifizierendem Todesbuch eigentlich beendet sei. Hier war sie wieder, die Frage, inwieweit Fiktion unsere Realität nur dann stört, wenn sie nah genug dran ist. Schließlich lese man dieses Buch auch nur dann anders, wenn man das Blätterrauschen um Suhrkamp vorher verfolgt habe. Dabei könne man jedoch nicht davon ausgehen, dass dies die einzige inhaltliche Ebene des Buches sei. Denn der Erzähler, so Gstrein, sei ein »hochgradig unglaubwürdiger«, der als kompletter Gegenentwurf zu Dagmar so sehr über die Sprache grübelt, dass er sich nie sicher sein könne, noch die Wahrheit zu fassen. Letztlich sei er deshalb auch zu keiner gegenteiligen Veröffentlichung mehr fähig. Mit dieser Erkenntnis habe dieses »unmoralische Buch« dann doch immerhin einen moralischen Anspruch, befand Gstrein.

Wenn sich das Gespräch auch immer wieder um die Frage nach der Wahrheit und der sprachlichen Ordnung für Fiktionen drehte, Unseld war allgegenwärtig und beendet Gstreins Buch und seinen zweiten Leseblock. So wirklich halte das Buch sich dann jedoch nicht zwischen den Buchdeckeln, merkte er selber noch an, um hinzuzufügen, dass gesellschaftliche Tabuthemen kein Hindernis sein dürften, Kunst zu machen.



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 Veröffentlicht am 11. Oktober 2010
 Mit freundlicher Genehmigung vom Literarischen Zentrum Göttingen
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