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Die Revolution zum Schluss

Wettervorhersagen sind ja immer so eine Sache, vor allem wenn sie eine ganze Saison umfassen sollen. Das Frühjahrsprogramm des Literarischen Zentrums lässt sich jedenfalls nicht vom »politischen Winter« ableiten und weist ein im besten Sinne unbeständiges und genreübergreifendes Programm auf.

Von Amelie May

Mit einem altbewährten Format startet die neue Saison am 02. März: Der Liederabend hat sich längst zu einer Konstante entwickelt, in der diverse Autor*innen ihre persönlichen Gedankengänge zu Größen populärer Musik im Gespräch mit Gerhard Kaiser, dem Kurator der Reihe, offenlegen. Dieses Mal fällt die Veranstaltung etwas aus der Reihe, denn mit dem Jazzgitarristen Anthony Wilson kommt ein waschechter Musiker ins Zentrum, der dem Publikum nicht nur die eine oder andere musikalische Kostprobe bieten wird, sondern im Gespräch mit Nina Holland, Verlegerin des Little Steidl Verlags, auch sein Werk Songs and Photographs, vorstellen wird, eine hybride Einheit aus Fotografieband und LP. Obwohl Wilson bisher noch nicht als Fotograf in Erscheinung getreten ist, nimmt das Fotografieren in seinem Alltag als Musiker eine wichtige Rolle ein. Daher bietet das Konzept des Bandes sicherlich viel Gesprächsstoff und die Möglichkeit, einen Blick in das Verlagskonzept von Little Steidl zu erhaschen.

Kuriose Erzählungen und reale Politdiskussion

Ebenfalls eine verlässliche Größe sei der Autor Clemens J. Setz, findet Programmleiterin Anja Johannsen. Nachdem er schon vor anderthalb Jahren in Göttingen den Abend mit seinem literarischen Vorbild Eliot Weinberger moderierte, ist der mehrfach ausgezeichnete Autor am 06. März wieder zu Gast im Literarischen Zentrum. Dieses Mal geht es allerdings um ihn und seinen Erzählband Der Trost runder Dinge. Seine Geschichten zeichnen sich durch ihre sprachlichen und personellen Kuriositäten und eine zusehends rasantere Erzählweise aus. Daran schließt er mit diesem Band an. Moderiert wird der Abend von NDR-Redakteur Joachim Dicks.

Weniger kuriosen und abstrakten Themen, sondern sehr konkreten gesellschaftlichen Fragen wenden sich Robert Habeck und Aladin El-Mafaalani zu, die am 13. März fordern: Kommt ins Offene! Und das im größten Raum, den die Universität Göttingen zu bieten hat, nämlich im ZHG 011. Sicherlich ist der Bundesvorsitzende der Grünen eine prominente Größe, die zuletzt durch seinen Twitter-Austritt eine mediale Diskussion lostrat. Allerdings ist er vor Kurzem auch als Autor des Buchs Wer wir sein könnten in Erscheinung getreten, in dem er Möglichkeiten einer inklusiven Sprache verhandelt. Ebenfalls ein einschlägiges Buch ist Das Integrationsparadox des Soziologen Aladin El-Mafaalani. Dort verfasst er folgenden Ratschlag an unsere Gesellschaft (hier überspitzt dargestellt): In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche sollte man optimistisch denken, da populistische Gegenströmungen zu erwarten und darüber hinaus ein Indikator für gelungene Integrationsprozesse seien. Wie ein Umgang mit einer unruhigen und konfliktgeladenen Gesellschaft aussehen könnte, darüber diskutieren die beiden im offenen Gespräch.

Fantastische Literat*innen

Natürlich darf im Literarischen Zentrum auch ein*e Vertreter*in des diesjährigen Gastlandes der Leipziger Buchmesse nicht fehlen! »Es ist ein toller Anlass, Literaturen in den Blick zu nehmen, von denen man sonst nicht so viel hört«, meint Anja Johannsen in Hinblick auf die tschechische Autorin Radka Denemarková, die am 27. März im Zentrum zu Gast sein wird. Im Gepäck hat sie ihren genreübergreifenden Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude. Was nach einem Prolog voller Überraschungen anfängt wie ein typischer Kriminalroman, entblättert Seite für Seite ein größeres Bild, in dem unter anderem drei ältere Damen akribisch ein Archiv über Gewalt an Frauen führen. Die Autorin ist zwar auch als deutsch-tschechische Übersetzerin tätig, kommt jedoch mit ihrer Übersetzerin Eva Profousová.

Literarisches Zentrum



Das Literarische Zentrum ist fester Bestandteil des Göttinger Literarischen Lebens seit April 2000. Es stellt an sich selbst den Anspruch ein »begehbares Feuilleton« zu sein. Neben den vierteljährlichen Programmen beteiligt sich das Literarische Zentrum außerdem am Göttinger Literaturherbst. Es betreibt sein eigenes Kinder- und Jugendprogramm »Literatur macht Schule«. Zuletzt startete am Haus der »Weltenschreiber«, ein Programm zur Implementierung des literarischen Schreibens in den Deutschunterricht.

 
 

Unter Literat*innen nach wie vor eine unvergessene Größe ist der Schriftsteller Friedo Lampe. Er war während des Nationalsozialismus als Schriftsteller tätig und wurde aufgrund homoerotischer Passagen in seinem 1933 erschienenen Romans Am Rande der Nacht vom Regime verboten, worauf er sich in die innere Emigration begab. Einen Einblick in sein Leben und Wirken geben seine erstmals herausgegebenen Briefe und Zeugnisse, über die die Herausgeber Thomas Ehrsam und Thedel von Wallmoden vom Wallstein Verlag am 02. April sprechen werden.

Lieber woanders wären die Protagonist*innen des neuen Romans von Marion Brasch. Wir sind hingegen froh, dass sie erstmals ins Zentrum kommt. Mit ihrem Roman Ab jetzt ist Ruhe hat sie viele Leser*innen begeistert, nicht zuletzt aufgrund ihres leichten Tones, der sich auch im neuen Roman wiederfindet. Dabei werden essentielle Lebensfragen und schwerwiegende Themen wie Schuldgefühle aufgegriffen, die das Leben der einander zunächst unbekannten Protagonist*innen Toni und Alex bestimmen. Es ist ein Roman, der sich in seiner Erzählgeschwindigkeit peu à peu steigert und von dem man nicht zu viel verraten sollte, bevor er Ende Februar erscheinen wird. Bis Denemarková mit der Literaturvermittlerin Carolin Callies am 11. April über den Roman sprechen wird, bleibt also noch genug Zeit zum Lesen.

Die Revolution kommt zum Schluss

Wie vom Literarischen Zentrum angekündigt, kommen mit Katharina Adler und Saša Stanišić zwei »Fantastische Freund*innen« ins Zentrum. Stanišić ist für das Göttinger Publikum kein Unbekannter, zweimal war er schon im Hauptprogramm zu Gast. Auf seine Idee hin kommt er dieses Mal gemeinsam mit Katharina Adler, die in ihrem Debütroman Ida das Leben ihrer Großmutter Ida Bauer aufarbeitet, die als Patientin Siegmund Freuds im Schlagwort »Fall Dora« bekannt wurde. Endlich ist nun auch Stanišićs Roman Herkunft fertiggestellt, sodass der gemeinsamen Lesung am 24. April nichts mehr im Wege steht. Wie der Zufall es wollte, handelt auch sein biographischer Roman von seiner Großmutter – die Vorzeichen für ein ergiebiges Autor*innengespräch stehen also bestens.

Ganz antiklimaktisch kommt die »Revolution!« (wie das Zentrum titelt) zuletzt, nämlich am 30. April. Allerdings passt dieser amüsante Widerspruch gut zu Eric Vuillard, der in verdichteten Mosaiken große historische Ereignisse neu erzählt und das nämlich »rasant und schleichend« zugleich, wie Johannsen ihren Leseeindruck schildert. In 14. Juli, das 2016 auf Französisch erschien und nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, nimmt Vuillard die Ereignisse der Französischen Revolution im Sommer 1789 aus Perspektive der Nicht-Machthabenden neu in Blick, gemeinsam mit der Moderatorin des Abends, Franziska Meier, und Jan Reinartz vom Jungen Theater, der aus der deutschen Übersetzung lesen wird.

… und ein kleiner Teaser zum Schluss

Für Fans der verschiedenen Reihen, die vielleicht enttäuscht sind, dass in diesem Quartal nur der Liederabend fortgesetzt wird, gibt es noch eine kleine Vorankündigung. Im Mai wird Gunther Geltinger als zweiter Gast die Reihe Love it or Leave it fortführen. Bei der Lesung wird er über seinen neuen Roman sprechen, in dem es unter anderem um verschiedene Beziehungskonstellationen gehen wird.



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 Veröffentlicht am 18. Februar 2019
 by Efraimstochter via pixabay pixabay lizenz
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