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Ein mitreißender Fluss

Die Schauspielenden des DT bewegen sich auf mehreren Erzählebenen und die Konversation über die zerrissene Welt lässt nur Schweigen zurück. Der Riss durch die Welt hat neben einer Katastrophe biblischen Ausmaßes bannendes Schauspiel und aufreibende Diskussionen zu bieten.

Von Lucie Mohme

»Das Schweigen war das Eingeständnis des vollkommenen Scheiterns«, gibt Sue (Rebecca Klingenberg) zu und beschreibt damit den Ausgang der kontrovers überspannten Unterhaltung, die Roland Schimmelpfennigs Stück Der Riss durch die Welt in der Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen ist. Diese Unterhaltung handelt vom »Riss« in der Gesellschaft, den deutlichen Unterschieden zwischen Ober- und Unterschicht.

Jared (Paul Trempnau), genannt »Bambi«, der vom Aussehen her Drogendealer oder Türsteher sein könnte, und die Kunststudentin Sophia (Gaia Vogel) ordnen sich selbst der Unterschicht zu. Die »Maus«, wie das Stück sie nennt, Sue und ihr Ehemann Tom laden die beiden in ihre Villa über der Stadt ein. Sophia will Tom ein gewagtes Kunstprojekt vorschlagen, das die »klaffende Wunde« in der Welt darstellen soll. Das Zusammentreffen der ernüchternden Realität von Sophia und Jared mit der luxuriösen abgehobenen Lebensweise von Tom und Sue verspricht eigentlich eine produktive Diskussion, doch das Gespräch ist zum Scheitern verurteilt und endet letztlich im Schweigen.

Das Stück des Dramatikers Roland Schimmelpfennig und dessen besondere Inszenierungsweise, die sich durch das Sprechen der Figuren über sich und die Szene in dritter Person auszeichnet, wird im DT überzeugend auf die Bühne gebracht. Regisseur Theo Fransz und Bettina Weller (Kostüm und Bühne) haben hier Außerordentliches vollbracht. Beide arbeiteten schon in der Spielzeit 2018/19 zusammen an der Inszenierung von »Die Blechtrommel«. Die Wirkung der dramatischen und schlussendlich gescheiterten Unterhaltung der fünf Figuren auf der Bühne wirkt auf die Zuschauenden anregend, sich über gesellschaftliche Missstände selbst wieder produktiver zu unterhalten. Eine Atmosphäre trauriger Erkenntnis und lächerlicher Sinnlosigkeit des »globalkolonialen Denkens«, wie es in dem Stück heißt, bestimmt den gesamten Abend.

Eine bedrohliche Szenerie

Die Bühne ist schräg abfallend nach vorne ausgerichtet und mit vier Stühlen für fünf Schauspielende ausgestattet. Das Skelett eines Marlins, eines Schwertfischs, wird zu Beginn von der Hausfrau Maria (Andrea Strube) herabgelassen und vervollständigt so mit einem drohenden Unterton das Bühnenbild. Tom, Sue, Sophia und Jared sitzen zuerst regungslos auf den Stühlen. Verhängnisvolle Musik von Jan S. Beyer ertönt, ein klirrendes Geräusch ist zu hören und Scherben liegen am Boden. Maria betritt die Bühne und kehrt das gläserne Chaos am Boden zusammen. Sie ist in diesem Stück keine aktive Person der Unterhaltung, aber die Schlüsselfigur für einige Diskussionspunkte.

Sophia ist der festen Überzeugung, dass das Einzige, was diese Gesellschaft dazu anregen kann, sich zu ändern, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes ist. Die dargestellte verkorkste Welt, in der Maria keine Stimme hat und Großunternehmen und Reiche mehr positiven Einfluss auf Umweltpolitik haben könnten, wenn sie sich darum scheren würden, ist durchaus mit unserer Realität abzugleichen. Sophia spricht von einem Fluss aus Plastik, Öl, Metall und toten Vögeln. Es ist ein Fluss aus Blut. Eben dieses Projekt unterbreitet sie dem reichen Unternehmer Tom, dessen Lieblingswort „aber“ zu sein scheint. Mitgebracht hat sie ihren Freund oder Bekannten Jared – die Definition der Beziehung steht bis zum Ende aus –, der ein romantisches Interesse an Sue erkennen lässt. Sofort ist klar, dass zwischen allen vier Figuren eine knisternde und durchaus sexuelle Spannung herrscht.

 


Paul Trempnau, Gaia Vogel, Rebecca Klingenberg, Florian Eppinger
Foto: ©Thomas Aurin

»Sie war scharf auf ihn und er war scharf auf sie«, heißt es, als sich die jeweils offiziell nicht Liierten während einer eingefrorenen Szene ans Publikum wenden. Jared sieht etwas in der unscheinbaren Sue, die ihn aufgrund seiner Gefängniserfahrung anziehend findet. Zwischen Tom und Sophia spielt das gemeinsame intellektuelle Interesse die Hauptrolle. Tom ist von Anfang an beeindruckt, dass die Kunststudentin sich so gegen die Gesellschaftsmissstände engagiert, dennoch hat er ihr vieles entgegenzusetzen. Sophia versteckt sich dabei hinter ihrer Bescheidenheit und versucht verbissen, interessante und sinnvolle Beiträge zum Thema beizusteuern.

Sue und Tom sind ein ungewöhnliches Ehepaar, zumal sie im Stück wenig interagieren. Klingenberg bringt die »Maus« mit passender Beklemmung auf die Bühne. Eine der wichtigsten Szenen – als ihr im Traum ein Frosch in den Hals klettert und sie erstickt, was eine Andeutung der von Sophia imaginierten biblischen Katastrophe ist – erregt ein deutliches Unwohlsein im Zuschauerraum. Eppinger beweist die geistige Überlegenheit seiner Figur, indem er schließlich den entscheidenden Appel äußert:

Das ändern gar nichts. Nichts. Und das wissen wir beide: Du. Ich. Wir alle. Wir brauchen eine neue Perspektive. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsentwurf.

Gaia Vogel als Künstlerin Sophia, verbirgt sich anfänglich noch hinter einer Fassade scheinbarer Bescheidenheit, offenbart sich jedoch bald als ziemlich selbstsicher. Als ihr ein sterbendes Reh begegnet, bricht Sophia mit einem erschütternden Schrei hervor und zeigt ihren wahren Charakter. Ab diesem Zeitpunkt ist ein klarer Wandel der Figur zu sehen, die von nun an offener monologisch ihre Gedanken mitteilt und sich auch im Dialog gegen die anderen Diskussionsparteien wendet. Optisch auffallend durch ihre überdimensional große orange Brille und den langen Ledermantel, behält sie ihre selbstbewusste und diskussionsbereite Haltung das restliche Stück über bei.

Wer ist Jared?

Das Mysterium um die Figur Jared löst sich bis zum Ende nicht auf. Ist er tatsächlich ein Drogendealer? War er wirklich im Gefängnis? Seine wahre Identität bleibt ein Geheimnis. »Bambi« verkauft sich selbst als unwissend und schwer von Begriff. Gleichzeitig zeigt er Empörung und Eifersucht, die sich später in Wut und Fassungslosigkeit verwandeln. Seinen wichtigsten Auftritt hat Jared, als im Finale das Skelett des Marlins fällt und den Fluss aus Blut über die Gesellschaft ergießt. Hier wird deutlich, dass der neue Schauspieler im Ensemble, Paul Trempnau, dieser Rolle mehr als gewachsen ist. Er verleiht dem Charakter Tiefe und Verzweiflung, obwohl Jared zuerst nicht besonders gedankenreich zu sein scheint.

Maria, die Haushälterin, beobachtet das Geschehen und lauscht der Unterhaltung. Sie wirkt frustriert und spricht ab und an, wenn die Hauptszene einfriert, zum Publikum: »Ein Bild. Eine Metapher. Eine Mahnung aus dem Ghetto.« Schnell wird klar: Maria ist hier die unterste Instanz. Niemand in diesem Haus wird schlechter behandelt als sie. Doch das Publikum bekommt Einblick in ihre dunklen und vorwurfsvollen Gedanken. Als Jared beim Abendessen fragt, woraus die servierten Bällchen auf dem Tisch gemacht seien, antwortet sie trocken: »Das sind frittierte Glasscherben.« Die Magd lässt hier nicht durchscheinen, ob das ihr Ernst ist und wird von den Dinierenden nur belächelt.

Die Narration der Figur Maria und ihre bedrohliche Seite stechen im Stück besonders hervor. Andrea Strube spielt eine unvergleichlich überzeugende Schlüsselfigur. Mit einem bösen, eindringlichen Blick fesselt sie das Publikum. Maria ist eine Identifikationsfigur, denn sie sieht, was wir sehen, und spricht aus, was wir denken. Genau dieser Stil ist typisch für Schimmelpfennigs Stücke: Durch die Publikumsansprachen in dritter Person lässt er die Gedanken der Charaktere laut werden. Dass die Schauspielenden den Corona-bedingten Abstand halten, fällt nicht auf und stört den Fluss des Spiels nicht. Die Chemie zwischen ihnen stimmt und bringt das ernste Thema gelungen auf die Bühne.

Zeitsprünge und geheime Gedanken

DT

 

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen.

 
 
Das Stück hat es in sich, was den zeitlichen Verlauf der Handlung angeht. Denn es spielt sich nicht chronologisch ab, wodurch der Einstieg in Der Riss durch die Welt nicht unbedingt leichtfällt. Am Anfang liegt ein zerbrochenes Glas am Boden, das erst im späteren Verlauf des Stücks zerbricht. Auch von verbranntem Geld ist am Anfang die Rede, das erst am Ende seinen Weg ins Feuer findet. Diese Art der Erzählung könnte zur Verwirrung führen, dennoch lässt sich der Handlung gut folgen, denn das Publikum hat alles schon einmal gehört, da es im Vorhinein erzählt wird.

Schimmelpfennig bringt auf diese Weise die unterschiedlichen Ebenen der Narration zusammen und gibt uns tieferen Einblick in die Hintergründe der Handlungsstränge. Und vielleicht ist es genau, wie es im Stück beschrieben wird: »Sie und ich, wir leben einfach in unterschiedlichen Sphären.« Die Wendung der Figuren zum Publikum zeigt die Unmöglichkeit der Kommunikation untereinander, die auf keine gemeinsame Ebene kommen kann. Auch wenn die Charaktere versuchen zu verstehen, wie produktiver Diskurs funktioniert, bleiben alle doch rat- und wortlos zurück. Schlussendlich heißt es nach Sue: »Aber da war niemand.« Das Ende lässt die Zuschauenden also erneut über die Sinnhaftigkeit dieses Treffens und die Diskussion über das neue Gesellschaftssystem nachdenken.

Ein Ende aus Glasscherben

Schließlich ist es Maria, über deren Kopf hinweg sich unterhalten wird,  die wirklich unter den Umständen leidet. Denn so wichtig die Konversation über diese gesellschaftlichen Konflikte zwischen Arm und Reich auch ist, so scheitert sie im Stück doch zum Schluss.

Die Glasscherben, die das Stück einleiten sowie am Ende auch abschließen, lassen sich als eine Metapher für das gescheiterte System verstehen. Dass Maria die zerstörte Konversation oder auch Gesellschaft aufkehrt, zeigt, dass die wichtigste Person, die die Gesellschaft trägt, von Aushandlungsprozessen ausgeschlossen ist. Die vier sprechenden Figuren schauen weg, obwohl sie in der Lage wären, ihr eine Stimme zu verleihen. Über die Unterhaltung und Aussagen der Figuren kann gestritten werden und das ist auch gut so. Das Ziel des Stückes ist Anregung zum Dialog und stellt letztlich die Frage: Brauchen wir wirklich einen Fluss aus Blut, um endlich etwas zu ändern?



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 21. Oktober 2020
 ©Thomas Aurin mit freundl. Genehmigung des DT Göttingen
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