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»Ethische Anarchie«

Verstrickt in der Sinnlichkeit – Im Brüsseler Opernhaus La Monnaie inszeniert Romeo Castellucci einen Parsifal Richard Wagners, der Elemente traditioneller Aufführungspraxis neben experimentelle wie eine Bondage-Choreographie stellt, und polarisiert so das Publikum. Ein Erfahrungsbericht von Martin Hinze.

Von Martin Hinze

Nach drei Fanfarenstößen schließen die Platzanweiser die Türen, alle Lichter erlöschen, selbst die Anzeigen der Sitzreihen in den Gängen. Absolute Finsternis und Stille, man sieht buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen.

Einen Moment wird man mit diesem Sinnesentzug allein gelassen, bis, einstimmig und sehr leise, Klänge von Streichern mit der Ouvertüre das Bühnenweihfestspiel eröffnen. Langsam wie ein Sonnenaufgang erhellen Scheinwerfer auf der Bühne den dichtesten Wald, der je auf einer Opernbühne zu sehen war – ein Wald »schattig und ernst, doch nicht düster«, wie es im Libretto heißt. Der halb hinter dichtem Laubwerk verborgene Gurnemanz, Hüter des heiligen Gralswaldes, singt Weckrufe für seine noch schlummernden Knappen. Der Zuschauer reibt sich wie sie die Augen. In dieser Idylle schwebt und windet sich hoch in den Wipfeln und ungesehen eine große weiße (und echte) Python, das Wappentier der Produktion.

Noch bevor die Hüter des heiligen Haines davon singen können, bezeugt die Präsenz der Schlange, dass sein paradiesischer Frieden bedroht ist. Die Entfesselung dunkler Triebe und erotischer Obsessionen lauern hinter dem Wald in der Feste des vom Gralszirkel verstoßenen Klingsor, der sich der Zauberei geweiht hat.

Die Dämonen erwachen

Wegen Wagners extremem Antisemitismus, wie er ihn z. B. 1869 in seiner Publikation Das Judenthum in der Musik formuliert, ist sein Werk seit dem Nationalsozialismus nur noch schwer zu genießen. Damit provoziert er bereits im 19. Jahrhundert Widerspruch. Vor allem aber ist es zu seiner Zeit die permanente und explizite Thematisierung erotischer Begierde, die ihn zu einem problematischen Autor macht. In Wagner and the erotic Impulse zeigt Laurence Dreyfus, wie Wagner in der Tiefe der musikalischen Struktur eine Sprache sinnlicher Liebe entwickelt. Dreyfus dokumentiert die verstörten Reaktionen zeitgenössischer Hörer, wie etwa von Gustave Stoeckel, einem zukünftigen Professor für Musik. Der berichtet nach der Premiere der Walküre 1876 von einer »ethischen Anarchie« durch das gefährliche »Wecken schlafender Leidenschaften«:

All aesthetics, theory and morals, are chased out of one; one’s breath is bated and the beating of the heart seems to stand still, the whole soul bewitched by an irresistible power…. During the performance, all that is sensual in human nature is wrought up to its wildest activity by the alluringly tempting music.1

Die Brüsseler Version des Parsifal aktualisiert jene Kontroverse. Die Opernwelt schien nach den inszenierten Massenvergewaltigungen des Regisseurs Calixto Bieito – viel später als das Theaterpublikum – kaum noch moralische Tabus zu kennen. Doch selbst an der um moderne Bilder bemühte Oper La Monnaie gelingt es dem Parsifal Castelluccis auf subtilere Weise für kleine Eklats zu sorgen. Welche Inszenierung kann Zuschauer schon noch derart erregen, dass sie nach der Vorstellung in der Kälte am Künstlerausgang warten, um die Darstellerinnen strittiger Rollen schreiend und derb zu beleidigen?

Erwähnte Beteiligte

Regie: Romeo Castellucci
Musikalische Leitung: Hartmut Haenchen
Bondage-Choreographie: Dasniya Sommer
Amfortas: Thomas Johannes Mayer
Gurnemanz: Jan-Hendrik Rootering
Klingsor: Tómas Tómasson
Parsifal: Andrew Richards

 
 
Anstoß genommen wird am 2. Akt, der nach dem mächtigen Wald des 1. Akts in einem klinisch sterilen weißen Raum spielt. Dort erwartet Klingsor Parsifal als mächtigsten Helden und letzten Gegner. Der Kampf wird nicht mit den Waffen von Rittern geführt, sondern mit erotischer Begierde. Klingsors Schar von feenhaft schönen, lasziven Blumenmädchen versucht, Parsifal zu verführen, so dass dieser seine Keuschheit zugunsten – um den Begriff des 19. Jahrhunderts zu gebrauchen – der Sinnlichkeit aufgibt. So ist es bereits verschiedenen Rittern des Grals und schließlich ihrem König Amfortas ergangen.

Samurai-Bondage bei Wagner?

Klingsor, gekleidet in eine Koch- oder Schlachterschürze, fesselt vor dem staunenden Parsifal drei der fast nackten bis nackten Blumenmädchen. An den Seilen, mit denen sie gefesselt sind, werden sie hoch in die Luft gehängt, sie drehen und winden sich, schwerelos. Die Ästhetik der aus Japan stammenden Shibari-Bondage flicht Seile in gebrochenen Linien um die Körper der Tänzerinnen und bringt etwas Fremdländisches in das von christlicher Symbolik bestimmte Stück. Eine der aufregendsten musikalischen Passagen fällt in diese Szene: herzzerreißend schön ist der in zwei Chorgruppen in gegenüberliegenden Logen geteilte Stereogesang der Blumenmädchen, die – »komm, komm« – Parsifal sirenengleich zu sich herablocken wollen. Andere Blumenmädchen tanzen weiter hinten mit der mechanischen Präzision einer großen Revue.

Die Nacktheit lädt zum Vorwurf der Pornographie ein, ist aber aufgrund verschiedener Wege der Verfremdung nicht gerecht. Da ist die klinisch weiße, kahle Bühnengestaltung dieser Szene. Auch die Haut der Blumenmädchen ist weiß bemalt, sie tragen alle die gleiche Perücke, und sehen dadurch puppenhaft ähnlich aus. Vor den Guckkasten der Bühne ist ein transparenter Schleier gespannt, der zum einen Videoprojektion auffängt, und es zum anderen dem Auge weiter erschwert, Details zu unterscheiden. Es findet also wieder, wie mit der Finsternis zu Beginn des Stückes, eine Restriktion visueller Wahrnehmung statt, die mit der körperlichen Restriktion der Gefesselten korrespondiert.

Der Vorwurf einiger Gäste, den Parsifal mit Sadomaso-Spielen zu entweihen – ungeachtet der künstlerischen Geschlossenheit der Inszenierung – hilft, ihre Anlage besser zu verstehen. Es ist ein aus Wagners Tagen bekannter Konflikt: die niedrige und rohe Massenkultur bedrohe die Tempel der erhabenen, hohen Kultur. Die Gattung »Bühnenweihfestspiel«, die Wagner seinem Parsifal zueignete, zeugt vom sakralen Anspruch einer Kunst, die nur als Gottesdienst angemessen zelebriert werden kann.

»Schon eure zahl ist frevel«

Die Inszenierung scheint mit diesem Misstrauen gegenüber der kommerziell korrumpierten Kultur der Massen bewusst zu spielen, indem sie im 3. Akt die Massen auf die Bühnen holt. Während der siegreiche Parsifal heilige Geisteszustände des erwählten Einzelnen durchlebt, gehen eng um ihn herum Hunderte Freiwillige in ordinärer Kleidung, wie eine Massendemo, auf das Publikum zu und verkehren durch ihre Anzahl das Verhältnis von Betrachtern und Betrachteten.

Castelluccis Parsifal ist, das Bühnenbild betreffend, zugleich widersprüchlich und in sich geschlossen: widersprüchlich aufgrund des Nebeneinander barock opulenter und experimentell extrem reduzierter Bilder, in sich geschlossen dank der selbstreflexiven Verbindung des Disparaten.

In der Massenszene des letzten Aktes kehrt gegen Ende die weiße Python zurück und schmiegt sich zwischen den Vielen um Schultern und Hals einer Tänzerin. Als schließlich der Applaus ertönt, haben Publikum und Darsteller einen Opernabend durchlebt, der einigen Mut und Bereitschaft zu ungewöhnlichen Erfahrungen verlangt.

  1. Gustave Stoeckel: »The Wagner Festival at Bayreuth« in: The New Englander, New Haven: W. L. Kingsley, vol. 36 (1877), issue 139, S. 276, online unter http://digital.library.cornell.edu/n/nwng/.


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 Veröffentlicht am 24. März 2011
 Foto von Bernd Uhlig. Mit freundlicher Genehmigung vom Theater La Monnaie.
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