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Geschichte(n) schreiben

Werden historische Ereignisse wie fiktionale Geschichten zu Verläufen geordnet und von einer Instanz wiedergegeben? Die geschichtstheoretische Debatte über die Erzählförmigkeit von Geschichte nahm nach Morton White, Arthur C. Danto und Paul Ricœur mit Hayden Whites Beiträgen eine neue Wendung. Rüdiger Brandis stellt Whites Thesen vor.

Von Rüdiger Brandis

»It is not possible to write history as a practical science.« So sprach am vorigen Dienstag zu Beginn des Workshop im ZTMK der »Featured Thinker« Hayden White und brachte damit auf den Punkt, worüber danach diskutiert werden sollte: Wie ist man als Wissenschaftler von literarischen, fiktionalen Normen abhängig? Wo ist die Grenze zwischen Fakt und Fiktion? Gibt es überhaupt Fakten, oder ist alles eine Form von fiktionaler Kreation? Und was bedeutet dies für Historiker und Kulturwissenschaftler? Trotz dieser zentralen Fragen wurde die Veranstaltung von den Monologen Whites beherrscht, der sich als brillanter Redner zeigte und so beinahe jeder kontroversen Frage ausweichen konnte. Das mag ihm im Hinblick auf sein Alter und seine mehr als erfolgreiche Laufbahn verziehen werden, doch folgend soll noch einmal auf seine bekanntesten Theoriekonzepte eingegangen werden und versucht werden, daraus mögliche Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft zu formulieren.

Geschichte und Erzählung sind seit jeher miteinander verbunden. Da die Geschichtswissenschaft durch ihren Forschungsgegenstand besonders zur Nutzung narrativer Strukturen neigt, ist die theoretische Reflexion darüber, wie man Geschichte in Geschichten schreiben kann, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Als Historiker sollte man sich der Bedeutung der Narrativität für die eigene wissenschaftliche Praxis bewusst sein, um nicht in die Kritik solcher zu geraten, die Geschichtswissenschaft gerade deswegen als Pseudowissenschaft deklarieren.

Die Postmoderne in der Geschichtswissenschaft

1973 veröffentlichte Hayden White sein Werk Metahistory1, mit dem er den postmodernen Diskurs um den Stellenwert der Narrativität in der Geschichtswissenschaft angestoßen hat. In diesem Werk wandte er Methoden der Poetik an, um klassische Werke der Geschichtsschreibung aus dem 19. Jahrhundert zu klassifizieren und nach ihrem Stil zu verorten. Er erklärte Historiker dadurch eher zu erzählenden Autoren denn Wissenschaftlern. Diese These schlug hohe Wellen und bis heute ist eine Lösung der Problematik der Erzählung nicht in Sicht. Der folgende Text wird auf Basis von Whites Aufsatz Das Problem in der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie2 aus dem Jahre 1987 versuchen, seinen Argumentationsgang darzustellen und die Konsequenz seiner Thesen für Historiker herauszuarbeiten.

White unterscheidet fiktionale und historische Erzählungen nicht durch ihre Form, sondern mehr durch ihren Inhalt. Historische Erzählungen stützten sich auf reelle Ereignisse und Fakten im Gegensatz zu Fiktionen, welche ihren Inhalt frei wählen könnten. Er bezieht sich damit hauptsächlich auf die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, welche von dem Gedanken beseelt war, die eine wahre Geschichte schreiben zu können. Laut White teilte sich die Methodik dieser Geschichtsschreibung in zwei Ebenen auf: Auf der ersten Ebene wurde historisches Quellenmaterial untersucht, um das Geschehene zu erzählen, auf der zweiten wurde das Geschehen dann interpretiert. Die Erzählung stand demzufolge im Mittelpunkt des Forschungsinteresses und die Interpretation baute auf ihr auf, sie war also sekundär. Dadurch war die Erzählung sowohl Inhalt als auch Methode dieser Form der Geschichtsschreibung, worin White die Problematik der Erzählung für die Geschichtswissenschaft sieht. Dies kann bereits an der Ambiguität des Begriffes Geschichte festgemacht werden, welcher sowohl eine erzählte Geschichte als auch die Wissenschaft über die Vergangenheit und deren Konstruktion meinen kann.

Trotzdem wird oftmals die kommunikative Funktion der Erzählung angepriesen, welche nicht zwingend Methode der historischen Diskurse sein muss, sondern auch lediglich als ihr Medium zur Übertragung von Informationen fungieren kann. Dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Gestaltung einer Erzählung, deren genaue Klassifizierung und Formung zu einer klaren Methode unmöglich sind. Die Erzählung selbst ist White zufolge immer bereits bedeutungstragend und daher nicht nur Medium allein, sondern Sinnstifter. Dieses Gegenargument scheint vor allem deswegen wichtig, da es auf zwei essentielle Punkte hinweist: Erstens zeigt es die zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählung auf. Und zweitens bietet doch gerade diese Fülle an Methoden ein großes Feld an Möglichkeiten zur Argumentationsführung. Dass Erzählung immer sinnstiftend ist, scheint demzufolge kein zwingendes Gegenargument, sondern ein großes Potential zur erzählerischen Gestaltung, die sich nicht nur für fiktionale Texte eignet, zu sein.

White schließt aus diesen Thesen jedoch, dass narrative Historie sich von wirklicher wissenschaftlicher Darstellung unterscheidet. Den Grund dafür sieht er unter anderem in den gemeinsamen Wurzeln der westlichen Historiographie und in der Literatur der antiken griechischen Schriftsteller. Als Beispiel kann Herodot angeführt werden, der sich mit der Auseinandersetzung der Griechen und Perser beschäftigt hat, dabei aber oft ohne kritische Bearbeitung Quellen nutzte und seine Ausführungen mit mythischen Schilderungen vermischte. Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten, dass man jeder Art von schriftlicher, in Prosa verfassten Erklärung vorwerfen könnte, sie wäre in gewisser Weise narrativ und daher keine wissenschaftliche Darstellung. Es wäre völlig gleich, ob es sich um eine Darstellung zum Beispiel in der Biologie als Beschreibung des Verhaltens von Tieren oder eben in der Geschichtswissenschaft handelt.

Entscheidend ist, dass man sich als Historiker fragen muss, ob man eine unwissenschaftliche Erzählung, vielleicht sogar eine romanhaftige Fiktion, nicht für eine wissenschaftliche Darstellung nutzbar machen könnte. Die von White zitierte Erkenntnis, dass jede Art von Erzählung allegorisch verstanden werden kann, ist demnach eine Einsicht, die man nicht nur zur Analyse von Erzähltexten im Hinterkopf haben sollte. Historiker sollten sich der gestalterischen Möglichkeiten, aber natürlich auch Gefahren (welche wohl hauptsächlich darin bestehen, sich in haltlosen Andeutungen in Gestalt wortgewaltiger Formulierungen zu verlieren) der historiographischen Schreibweisen bewusst sein. White selbst zeigt an manchen Stellen seines Textes, dass auch er davor nicht gefeit ist. Denn »eine narrative Schilderung ist immer eine metaphorisch gestaltete Schilderung, sie ist immer eine Allegorie.«3

Der Erzähler Ricœur und andere Geschichtsexperimente

Neben historischen Methoden der Erzählung nimmt White auch einige philosophische Ansätze in den Blick. Besonders interessant ist die Theorie von Paul Ricœur. Dieser verteidigt die narrative Methode sehr vehement, indem er hervorhebt, dass die Erzählung in erster Linie zum Verstehen der historischen Handlung zu gebrauchen sei und weniger als Erklärung. White gibt dies folgendermaßen wieder: »Historische Handlungen heißt […], die zum Handeln motivierenden Intentionen, die Handlungen selbst und die Folgen dieser Handlungen, gespiegelt in den sozialen und kulturellen Kontexten, zusammenzufassen als Teile sinnvoller Ganzheiten.«4 Ricœur behauptet also, dass historische Ereignisse konstitutiv Bestandteil eines Plots einer Erzählung seien müssten; erst diese narrative Kohärenzbildung mache sie überhaupt zu solchen. Die Annahme scheint vor allem dann einleuchtend, wenn man sich menschliche Vergangenheit allgemein in Geschichten bzw. Erzählungen vorstellt. Gemessen an der alltäglichen Erfahrung sollte eingeräumt werden, dass uns Geschichte immer in Erzählungen gestaltet begegnet.

Diese Überlegungen führen laut White jedoch alle zu dem Problem zurück, dass alle theoretischen Überlegungen über die Geschichtsschreibung sich zwingend in der Zweideutigkeit des Begriffes ›Geschichte‹ verstricken müssen. Bei dem Begriff Erzählung sieht er ein ähnliches Problem, was für ihn besonders in dem Phänomen der narrativen Historie zum Vorschein tritt. Er sieht hierhin vor allem das Unvermögen der Historiker, zwischen ihrem Objekt und dem Diskurs zu differenzieren. Sein Fazit ist, dass der narrative Diskurs für eine Wissenschaft durch das Vorherrschen von Fiktion und Imagination nicht geeignet ist. Die Problematik liegt für ihn daher generell in dem Versuch, der historischen Wahrheit näher zu kommen, und dem Maß an Imagination, die dafür benötigt wird.

Folgt man Whites Ausführungen und Denkanstößen, so bringt einen dies bald an den Punkt, an dem man einsehen muss, dass dieses Forschungsfeld endlos ist. Historikern durch ihren Hang zum Narrativen die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, hilft zur Bearbeitung dieser Hydra sicherlich nicht weiter. Glauben wir White, dann erscheint es auch gar unmöglich, sich als Historiker der Erzählung als Methode zu entziehen. Also sollte man sich fragen, wie man sie sich zunutze machen kann.

1997 legte Hans Ulrich Gumbrecht mit In 1926. Living at the edge of time5 den Versuch einer andersartigen Geschichtsschreibung vor. Ziel des Buches war es, das Gefühl, sich in der Zeit von 1926 zu befinden, heraufzubeschwören, allerdings nicht auf die Art und Weise, wie ein historischer Roman dies tun würde. Gumbrecht wählte scheinbar nicht zusammenhängende Themen aus, die er wie in einem Hypertext untereinander verknüpfte, so dass die übliche chronologische Struktur eines Buches durchbrochen wurde. Die einzelnen Themen selbst wurden von ihm ohne Interpretation dargestellt, als reine Oberflächenwahrnehmung. Dem Hauptteil ließ Gumbrecht einen theoretischen Teil folgen, in dem er sein eigens zuvor entworfenes Modell im Zusammenhang mit aktuellen Problemen der Kulturwissenschaften diskutierte.

White lobte diesen Versuch als gelungen und dringend nötig. Im Grunde hat es aber auch Gumbrecht nicht geschafft, sich von übergreifenden Erzählstrukturen zu lösen, da er bereits durch seine Auswahl an Themen ein Konstrukt oder auch Plot entworfen hat. Zudem erzählte er innerhalb der Kapitel der einzelnen Themen kleine Geschichten von Begebenheiten oder Menschen. Gumbrechts Konzept ist interessant, da es die Formen klassischer Geschichtsschreibung durchbricht und etwas völlig Neues schafft. Eine Antwort auf die Problematik der Narrativität bietet es jedoch nicht.

Ein Versuch, Geschichte zu schreiben

Geschichtswissenschaft lebt von der Faszination des Vergangenen, der Menschen und ihrem Umfeld. Vergangene Ereignisse lassen sich jedoch nicht mehr genauso wiedergeben, wie sie stattgefunden haben, da sich diese sogenannten wahren Begebenheiten bereits durch die verschiedenen Wahrnehmungen verschiedener Menschen verändern; in anderen Worten: Sie existieren nicht. Deswegen halte ich es nicht für unwissenschaftlich, wenn man sich auf Basis der empirischen Arbeitsweise der Historiker literarische Konstrukte wie das Drama oder den Roman (oder auch Filme) zunutze macht, um wissenschaftliche Abhandlungen anschaulicher zu gestalten. Als Beispiel für ein solches Szenario soll an dieser Stelle der Roman Die roten Matrosen von Klaus Kordon hinzugezogen werden, welcher sich mit den Ereignissen um die Novemberrevolution 1918 in Berlin beschäftigt. Dieses Thema bietet sich besonders durch seine große Vielfalt an, da es allen historischen Disziplinen und Theorien Material zur Behandlung bietet. Zuerst sei hier jedoch der Inhalt des Romans kurz zusammengefasst:

Protagonist ist der 13-jährige Helmut Gebhardt, genannt Helle, der mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern in einem Hinterhof des Berliner Stadtviertels Wedding lebt. Die Handlung setzt im Herbst 1918 ein, Helles Vater ist immer noch an der Front. Der Alltag besteht aus Hunger und Kriegsmüdigkeit. Da Helles Mutter den ganzen Tag arbeitet und er morgens in der Schule ist, muss seine jüngere Schwester bereits einer alten Dame bei der Heimarbeit helfen, die dafür auf den jüngsten Bruder aufpasst. Nachmittags muss Helle sich um die Geschwister kümmern.

Im Oktober kehrt schließlich Helles Vater von der Front als ›Kriegsversehrter‹ zurück; eine Granate hat ihm einen Arm abgerissen. Die Front hat den Vater aber auch mental verändert, endgültig hat er das Vertrauen in die Regierung aber auch in die Sozialdemokraten verloren. Es folgen die Ereignisse der Novemberrevolution, bei denen Helle hautnah die Ankunft der Matrosen aus Kiel miterlebt und an den Demonstrationen teilnimmt. Die politischen Machtkämpfe verfolgt Helle durch die Diskussionen zwischen seinen sich zu den Spartakisten zählenden Eltern mit. In der Person des Vaters seines Schulfreundes Fritz lernt Helle auch einen zunächst Kaisertreuen, dann einen Unterstützer von Friedrich Ebert kennen. Die Handlung spinnt sich weiter über die vielen Unruhen bis zur »Blutweihnacht« und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen Helles kindliche Versuche, die politischen Ereignisse und das Handeln der Menschen um ihn herum zu verstehen. Darüber hinaus wird jedoch auch die Zerrissenheit der Menschen in viele kleine Gruppierungen fokussiert, die zu keiner Einigung gelangen können. Durch die vielen Schilderungen von Demonstrationen und die Wiedergabe von berühmten Reden aus Sicht des jungen Protagonisten kommen allerdings auch Themen wie massendynamische Prozesse ins Bild. Der Roman erzählt durch seine Hinterhofhelden die Geschichte der Novemberrevolution auf Basis der bekannten Fakten auf einer alltäglichen Ebene nach, in der die Sorgen und Nöte, aber auch die Hoffnungen einer ganzen Bevölkerungsschicht zum Ausdruck gebracht werden.

Um die für die Geschichtswissenschaft praktikable Seite dieses Beispielromans zu ermitteln und darzulegen, muss man zunächst einen Themenkreis aus dem ganzen Roman aussondern. Es ist nicht hilfreich, solch komplexe Erzählungen im Ganzen in wissenschaftliche Arbeiten zu integrieren. Stattdessen sollten Erzählungen im Umfang einer Kurzgeschichte mit relativ überschaubaren Erzählsträngen zur prägnanten Veranschaulichung genutzt werden.

In einem Kapitel von Kordons Roman werden die Demonstrationen des 9. November 1918 thematisiert. Beschrieben wird hier, wie Helle das Anschwellen der Menschenmassen wahrnimmt und wie er später selbst inmitten der Massen die Reden von Scheidemann und später Liebknecht erlebt. Auch sein Freund Fritz ist anwesend, der der ganzen Begebenheit allerdings viel zurückhaltender begegnet als Helle. Eine solche Szene ließe sich zum Beispiel sehr gut in einer Abhandlung über Massendynamik einbauen, da sie es ermöglicht, die eigenen Thesen in einer fiktiven Konstruktion zu veranschaulichen. Der Vorteil wäre die Schaffung eines Bildes seiner wissenschaftlichen Arbeit und Erkenntnis. Ein wissenschaftlicher Unterbau vermag der Erzählung auch ihren laut White verfänglichen allegorischen Charakter zu nehmen. Die Erzählung soll also mitnichten selbst als wissenschaftliche Methode sondern mehr als Ergänzung fungieren. Es wäre also eine Umkehrung von Whites Darstellung der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, bei der die Erzählung die Grundlage bildet und auf ihr erst der Diskurs, die Interpretation, aufgebaut wurde.

Ein weiterer Vorteil der Erzählung ist die Möglichkeit zur Veranschaulichung dynamischer Prozesse, die in einer wissenschaftlichen Betrachtung ansonsten nur nacheinander analysiert und beschrieben werden könnten. Umberto Eco hat zum Beispiel in seinem Roman Der Name der Rose bewiesen, wie dies möglich ist, indem er seine Forschungsergebnisse im Bereich der Semiotik dort anschaulich beschrieb und durch seinen Protagonist durchführen ließ.6 Auf die Geschichtswissenschaft angewendet bedeutet dies die Möglichkeit, interdisziplinäre Zusammenhänge viel einfacher darstellen zu können. Seit dem Cultural Turn steht Historikern eine Fülle an Möglichkeiten zur Verfügung, auf welche Weise man Geschichtswissenschaft betreiben und schreiben kann. Ein damit einhergehender Effekt ist jedoch auch, dass sich Historiker durch den Überfluss an neuartigen theoretischen Richtungen darüber streiten, welche die praktikabelste sei. Mit einer Erzählung wie dem Roman Die roten Matrosen in ihrer Mitte wäre die Möglichkeit gegeben, eine neue Interdisziplinarität unterhalb der einzelnen historischen Disziplinen zu schaffen – und darüber hinaus.

Als Beispiel dafür bietet sich erneut der oben wiedergegebene Ausschnitt über die Demonstration an. Neben der bereits erwähnten Massendynamik fügt Klaus Kordon zusätzlich einen politischen Diskurs ein, in dem er die Reden der berühmten Politiker wiedergibt und er seinen Helden mit anderen über das Gehörte diskutieren lässt. Diesen Darstellungskniff setzt Kordon im Romanverlauf mehrfach ein, um politische Hintergrundinformationen über aktuelle Ereignisse und Modelle wie den Kommunismus nachzuliefern. Im Roman geschieht dies noch auf sehr einfache Weise, da es sich um ein Jugendbuch handelt, aber das Konzept ist ausbaufähig.

Geschichte erfahrbar machen

Die Erzählung ist ein so essentieller Bestandteil des menschlichen Lebens, dass sie aus der Geschichtswissenschaft und anderen wissenschaftlichen Disziplinen nicht wegzudenken ist. Als dominierende Methode mag sie nicht tauglich sein, dies hat Hayden White völlig zu Recht festgestellt. Er hat jedoch übersehen, welche Möglichkeiten sie als eine Form der Veranschaulichung bietet. Sie ist nicht nur als Objekt der Wissenschaft, sondern auch als ergänzende Methode nützlich, die vielleicht sogar das Potential besitzt, die starre Form der europäischen Historiographie aufzubrechen. Der größte Vorteil der Erzählung bleibt jedoch, dass sie den geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstand, also buchstäblich Geschichte, erfahrbar macht. Im Zeitalter von Bild, Film und interaktiven Medien kann dies für Historiker eine Zäsur bedeuten. Doch genau diese Vorteile werfen auch eine große Frage des Diskurses über Narrativität in der Geschichtswissenschaft auf. Will man als Historiker Geschichte überhaupt erfahrbar machen? Wenn man Romane liest, Filme schaut oder Gumbrechts In 1926 liest, möchte man sofort mit einem Ja antworten. Aber viele werden wohl der Meinung sein, dass diese Prämisse der Pfad zum Unwissenschaftlichen ist. Doch was steht für einen Historiker im Vordergrund, der sein Objekt nicht erfahrbar machen will?

  1. Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991.
  2. Vgl. Ders.: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie. In: Theorie der modernen Geschichtsschreibung, hrsg. von Pietro Rossi. Frankfurt/M. 1987, S. 57-106.
  3. Ebd., S. 84.
  4. Ebd., S. 87.
  5. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: In 1926. Living at the edge of time. Cambridge 1997.
  6. Vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose. Wien 1985, S.32ff.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 14. Juni 2011
 Kategorie: Misc., Wissenschaft
 Der Kaiser hat abgedankt!. In: Vorwärts, 9.11.1918. Archiv der sozialen Demokratie (FES)
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 Silvana Zehnpfennig
 15. Februar 2012, 10:49 Uhr

Stelle man sich vor, die Geschichte würde ohne den Pfeiler des Erzählens überliefert, so täte eine Statik entstehen, die zum einen wenig Raum zur Widergabe des Geschehens biete, und zum anderen eine Determination der Weltgeschichte bedeute. Der Fluss der Weltgeschichte bzw. der Menschheitsgeschichte würde unter dem Deckmantel der Rohheit behandelt, da Möglichkeiten Vorstellungen über Geschenisse und deren Bedeutungen zur Übertragung von Meinungen, die sich einstellen, untermauernt würden. Die Überlieferung würde blind verlaufen und keinen Anlass dazu bieten, aus Vergangenem zu lernen um für die Gegenwart ein anderes Geschichtsbild zu erstellen, was das Voranschreiten von Zukunft bedeutet. Die Geschichte täte sich in einer Zeitschleife befinden, da niemals auch nur die geringste Veränderung im Denken und Handeln der Menschheit angeregt würde. Es würde die vollkommene Stagnation menschlichen Lebens bedeuten.

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