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2 Stimmen, 1 Roman
Gestern ist heute ist morgen

In ihrem Debütroman Dinge, die wir heute sagten zeichnet die als Lyrikerin bereits bekannte Judith Zander ein trostloses Dorf-Portrait vom »hässlichen Endlein der Welt«, dem ostdeutschen Dorf Bresekow. Die Heterogenität der verschiedenen Erzählstimmen macht den Roman zum Sprachkunstwerk, findet Kevin Kempke.

Von Kevin Kempke

Es gibt Orte, die ein Eigenleben führen, die wie ein geschlossenes System funktionieren und Änderungen in der Ordnung äußerst ablehnend gegenüberstehen. Bresekow ist so ein Ort. Trostlosigkeit und Kleinstadt-Mief sind die hervorstechenden Merkmale in diesem »hässlichen Endlein der Welt«, wo sich jeder grüßt, aber keiner den anderen richtig kennt. Nichtmal eine Kneipe gibt es in Bresekow, sondern nur das alte Gebäude der LPG, genannt die »Elpe«, wo die Dorfjugend bei Alkohol und Marihuana vor sich hin vegetiert. In ihrem Debütroman Dinge, die wir heute sagten lüftet Judith Zander, die als Lyrikerin schon einige Erfolge feierte, den Mantel des Schweigens, der über dem ostdeutschen Dorf liegt, das in mehr als einer Hinsicht an das Jerichow Uwe Johnsons erinnert. Auf knapp 500 Seiten erzählt die Autorin aus dem Leben einiger Dorfbewohner – vom Ende des zweiten Weltkriegs bis zur Jahrtausendwende.

»Das Dorf kennt keine Aufregung, es regt sich nur gerne auf« – unter diesen Voraussetzungen braucht es nur eines Anstoßes von außen, um die vielstimmige Erzählmaschinerie des Dorfes in Gang zu setzen. Dieser Anstoß ist der Tod der alten Anna Hanske und die Rückkehr ihrer Tochter Ingrid, die mit ihrem Mann Michael nach Irland ausgewandert ist und ihr Heimatdorf Bresekow seit ihrer Flucht in den Westen nicht mehr gesehen hat. Anlass genug für die Dorfbewohner sich noch einmal zu erinnern, wie das damals war, mit den Hanskes und überhaupt.

Buch-Info


Judith Zander
Dinge, die wir heute sagten
München: dtv 2010
480 Seiten, 16,90 €

 

2 Stimmen, 1 Roman

In jedem erweckt das Lesen eines Textes ganz unterschiedliche Eindrücke. Dementsprechend unterscheiden sich die Stimmen zweier Personen, die ein und denselben Roman besprechen. Die Reihe »2 Stimmen, 1 Roman« macht die einzigartigen Zugänge zu Texten sichtbar.
 
 
Judith Zander lässt Erzähler aus drei Generationen in inneren Monologen zu Wort kommen – und die sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Jeder Erzähler ist mit seinem eigenen Sprachduktus ausgestattet, an dem man ihn aufgrund soziolektaler und dialektaler Merkmale auch ohne die den Sprecherwechsel ankündigenden Überschriften identifizieren könnte. Dadurch kommt ein Sprachkunstwerk zustande, das intensiv und lebensnah die Heterogenität der Erzählstimmen vorführt. Die gleichsam naturalistische Sprachgestaltung geht sogar soweit, dass man manchmal meint, die Sprecher würden einem direkt gegenüber sitzen und bei einer Tasse Kaffee ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern. Auf der anderen Seite driftet der Erzählfluss manchmal auch ins Beliebige ab. Wo viel geredet wird, fehlt manchmal eben die nötige Stringenz. Oder anders gesagt: Die rhetorische Maxime »Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, und nicht die Zuhörer« wird hier gelegentlich missachtet.

Von Plattdeutsch zu Beatles-Texten

Unterbrochen wird der Erzählstrom lediglich durch bewusst ungelenke Übersetzungen von Beatles-Texten – die leitmotivisch den Roman durchziehen – und durch plattdeutsche Passagen, in denen die Dorfgemeinde in chorisch anmutenden Versen ihren Senf dazugeben darf: »Na wat seggst du dootau, nu isse doot/Jo nu isse doot ick heww dat/ De Olsch/ Ick hab dat erst gestern inne Zeitung«. Was man sich eben so erzählt.

Setzt man all die Informationen aus den Reden der Dorfbewohner wie Puzzle-Teile zusammen, erhält man im Verlauf des Romans ein immer genaueres Bild davon, was Ingrid damals zur Flucht in den Westen getrieben hat und warum ihre Mutter immer mehr zur gesellschaftlichen Außenseiterin wurde. Das ist aber nur eine Seite des Dorfes und seiner Geschichten. Denn die jugendlichen Hauptfiguren Romy und Ella haben mit den alten Kamellen, über die sich ihre Eltern die Köpfe heiß reden, wenig am Hut. Beide gehen sie aufs Gymnasium und blicken mit einer gehörigen Portion Verachtung auf das Dorf und die Bewohner. Sie sind Fremdkörper in dieser Welt und wissen das nur zu gut. Der Tod der alten Anna bringt aber auch in ihr Leben gehörig Bewegung, Ingrids Sohn Paul ist nämlich auch mitgekommen zum Kondolenzbesuch. Besonders Romy, die sonst keine Freunde hat, verfällt dem Charme des irischen Gastes, der nicht nur Paul heißt, sondern dazu noch aussieht wie Paul McCartney mit 23. Beatles-Liebhaberin Romy fühlt sich wie im siebten Himmel. Doch auch Ella fühlt sich zu Paul hingezogen.

Wie Judith Zander die allmähliche Annäherung zwischen Romy, Ella und Paul gestaltet, gehört zu den stärksten Momenten des Romans. Mit viel Feingefühl und Menschenkenntnis beschreibt die Autorin, wie die beiden so verschiedenen Mädchen ihren Schutzpanzer aus Arroganz und Widerborstigkeit langsam fallenlassen und sich anfreunden. Paul ist das verbindende Element, was die beiden Außenseiterinnen aneinander schmiedet. Im Lauf der Geschichte bringt Paul Romy dann sogar dazu, mit ihm »auf die Elpe« zu gehen, eine Idee, auf die sie von selbst nie im Leben gekommen wären.

Im Würgegriff zwischenmenschlicher Tragödien

Das ist nur eine von vielen Grenzüberschreitungen von denen der Roman handelt – im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn. Denn die zwischenmenschlichen Tragödien, die das Dorf im Würgegriff halten, spielen sich vor dem zeitgeschichtlichem Hintergrund der Gründung, des Bestehens und des Untergangs der DDR ab. Dinge, die wir heute sagten ist vordergründig kein politischer Roman, aber auch an Bresekow geht die Weltpolitik nicht spurlos vorüber. Fragen der Identität werden auch an die Staatszugehörigkeit geknüpft. Die Erinnerungen der älteren Erzähler sind voll von DDR-Lokalkolorit, die im Vorbeigehen eine Welt evozieren, die mit dem Mauerfall untergegangen ist. Oder doch nicht? Die Kräfte, die das Dorfsystem von innen am Laufen halten, sind jedenfalls immer noch die gleichen. Und auch wenn die »Elpe« am Ende in Flammen steht, ist auch diese Austilgung eines der letzten sichtbaren DDR-Relikte ein ambivalentes Symbol. Denn ein Phönix steigt in Bresekow wohl kaum aus der Asche.

Schließlich findet auf bitter-süße Weise auch die Liebesgeschichte zwischen Ella, Romy und Paul ihr Ende. Paul fährt wieder nach Irland, die Mädchen bleiben mit ihrem Gefühlschaos zurück. Doch in all dem Abschiedsschmerz gibt es auch einen kleinen Hoffnungsschimmer auf eine bessere Zukunft. Dass die in Bresekow liegt, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.

Nadya Hartmanns Stimme zu Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten findet ihr hier.



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 Veröffentlicht am 3. März 2011
 Kategorie: Belletristik
 Bild von VARA via Wikimedia Commons.
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