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Göttinger Szenen
Heimliche Heiligtümer

Bücher erzählen Geschichten. Nicht nur jene, die in schwarzen Lettern auf ihren Seiten geschrieben stehen; vielmehr ist es die Biographie eines Buches, die aus der Vergangenheit zu berichten vermag. Damit diese Geschichten auch von den nachfolgenden Generationen gelesen werden können, beschäftigen sich Einrichtungen wie die Restaurierungswerkstatt der Universität Göttingen mit dem Erhalt alter Werke.

Von Alexander Kraft, Amina Vieth und Caroline Weinrich

»Ein großer Bestand konnte bereits eliminiert werden«, erzählt Winfried Feuerstein nicht ohne Stolz. Ein leichtes Grinsen kann er jedoch nicht verbergen; der Ironie seiner Aussage ist auch er sich bewusst angesichts der Unmenge an Büchern, die zum Schutz vor dem Schimmel in Folie eingewickelt in den Regalen zu Tausenden hinter ihm liegen. Ungefähr 10.000 Bücher, die ältesten weit über 500 Jahre alt, warten in der ebenerdigen Schatzkammer darauf, aus ihrem Dornröschen-Schlaf geweckt zu werden. Wann es soweit sein wird, kann auch Feuerstein nicht mit Gewissheit sagen: »Nicht alle Schäden können und müssen beseitigt werden.« Die Zeit spiele bei der Entscheidung, wann ein Buch restauriert werde, eine nicht unerhebliche Rolle.

Göttinger Szenen


In der Reihe Göttinger Szenen widmet sich Litlog in Reportagen, Berichten oder Kommentaren verschiedenen Orten und Milieus aus Göttingen. Die Beiträge entstanden im Rahmen eines Seminars zum Thema »Literatur und Journalismus« im Sommersemester 2010.
 
 
Noch wichtiger sei allerdings, welchen Wert das jeweilige Exemplar mitbringe: Wie groß ist der weltweite Bestand des Buches? Gibt es überhaupt noch weitere Ausgaben? Wie viele Arbeitsstunden würde eine Restaurierung kosten und ließe sich diese mit dem Nutzen rechtfertigen? Unter Umständen dauert die Restaurierung eines einzelnen Buch je nach Grad der Beschädigung bis zu 200 Stunden, da ist die Frage durchaus berechtigt: Wer liest das überhaupt? Über solche Fragen machen sich Feuerstein und Dr. Helmut Rohlfing, der Leiter der Restaurierungswerkstatt, jedoch keine Sorgen. Häufig fragen Bibliotheken konkret nach einzelnen, seltenen Werken, die sie für eine Ausstellung ausleihen möchten. Da sämtliche Bücher in der Werkstatt erfasst und katalogisiert wurden, ließen sich die gewünschten Exemplare gezielt finden und wieder instand setzen, erklärt Rohlfing. Bedauerlicherweise könne nicht jedes Leihgesuch erfüllt werden; über die Jahre habe der Schimmel einige Bücher fast vollständig zerstört.

Wenn vom Buch nur noch Matsch bleibt


Noch viel zu tun: 10.000 Bücher warten noch auf ihre Restaurierung.


Seit Mitte der fünfziger Jahre frisst sich der Schimmelpilz Aspergillus bereits durch die Seiten. In Folge eines Bombentreffers aus dem 2. Weltkrieg sickerte Regenwasser in einige Keller der alten Bibliothek. Getrocknet wurden die beschädigten Bücher in den Heizungskellern. Dort verbreitete sich der Schimmelpilz. Allerdings entwickelte sich erst Anfang der siebziger Jahre ein Bewusstsein für restauratorisches Arbeiten und den Erhalt alter Bestände. Für manche kam damit jede Rettung zu spät.

An einem besonders schwer beschädigten Fall demonstriert Feuerstein die Aggressivität des Schimmels. Die ersten drei Seiten lassen sich mühelos aufklappen. Darunter liegt ein Zellulosebrei, der aussieht, als hätte jemand Teig zwischen die Seiten geschmiert. Auch mit den neusten Verfahren ließe sich hier nichts mehr retten. »Der Schimmel greift die Substanz so sehr an, dass im Grunde keine mehr vorhanden ist«, beschreibt Feuerstein den getrockneten Matsch. Hier hilft nur noch der Anruf beim Antiquariat, in der Hoffnung, dass dort noch ein Exemplar aufzutreiben ist.

Doch nicht immer ist nur der Schimmel Schuld an den Schäden. Frühere Methoden, zum Beispiel der Einsatz von Leim auf Kunstharzbasis, der auch im Haushaltskleber »UHU« eingesetzt wird, greifen unter Umständen die Zellulose an. Schlimmer noch: Die Verfahren sind irreversibel. Wurde ein zerfleddertes Buch Anfang der siebziger Jahre mit Kunstharz geleimt, lässt sich dieser Schritt heute nicht mehr rückgängig machen. Aus den anfänglichen Fehlern habe man im Laufe der Zeit gelernt, erklärt Dr. Rohlfing, mittlerweile benutzt man bei der Restaurierung ausschließlich Originalmaterialen. Vor allem die Kontakte zu Vergleichsdisziplinen, wie etwa dem Kunstbetrieb, haben geholfen, die Technik zu verfeinern und das Verfahren zu spezialisieren. Betätigten sich anfangs fast nur Buchbinder mit der Restaurierung, gibt es seit den 1990er Jahren spezielle Studiengänge, die sich mit der »Restaurierung auf Papier und Schriftgu« befassen.

Dennoch rät Dr. Rohlfing diesen Studierenden, schon vor oder wenigstens während der Studienzeit möglichst viel praktische Erfahrung zu sammeln. Da der Bachelor keine Ausbildung voraussetze und das Studium hauptsächlich die Theorie lehre, fehle es den Studenten hinterher häufig an Erfahrung. Auch Auszubildende der Buchbinderei würden sich nach Beendigung ihrer Ausbildung nicht selten für die Arbeit als Restaurator entscheiden. Die Arbeit habe etwas »Schöpferisch-Kreatives«. Der »Reiz, etwas wiederherzustellen«, locke viele Buchbinder in den Beruf, erzählt Feuerstein mit einem Lächeln im Gesicht. Aber auch Cornelia Funkes Tintenherz, das von dem Buchbinder Mortimer Folchart handelt, habe den Zulauf positiv beeinflusst, ergänzt Dr. Rohlfing.

Mit Radierer und Handfeger


Risikofrei lesen und arbeiten: Horvathne Peterfi Gyöugyver kann das vom Schimmel beschädigte Buch nur an der Rein-Werkbank bearbeiten. Durch einen Abzug braucht sie keine Angst vor den Schimmelsporen haben.


In der Tat scheint die Arbeit eines Restaurators wesentlich komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Wurde ein Buch auf seine Beschädigung hin überprüft – und zwar Seite für Seite –, wird unter Berücksichtigung des Materials entschieden, welche Methode zur Reinigung und Aufarbeitung angewandt wird. Bei eher geringem Schimmelbefall reicht oft schon das sogenannte Trockenreinigen. Mit Radierer und Handfeger bewaffnet sitzt Restauratorin Horvathne Peterfi Gyöugyver an der Rein-Werkbank und fegt die Sporen einfach aus den Seiten. Gröbere Verschmutzungen radiert sie aus. Damit die Angestellten die Sporen nicht aus Versehen einatmen, saugt ein Abzug die verunreinigte Luft unablässig ab.

Bei raupenartigem Lochfraß des Schimmels bringt allerdings auch der stärkste Radierer nichts. In solchen Fällen hilft nur das Nassreinigen mit anschließender Fehlstellenbehandlung. Inmitten eines weiß gekachelten Raums, dessen Ausstattung nicht nur an ein Chemielabor erinnert, sondern auch den Geruch der alten Chemieräume aus der Schule trägt, steht dafür eine Apparatur, die – vereinfacht dargestellt – das Buch wie eine Waschmaschine reinigt. In einem Becken treiben die gelösten Seiten mehrere Stunden vor sich hin, während die Maschine das Wasser mehrmals umwälzt und dadurch die Seiten mitsamt der Verschmutzung spült. Die sauberen, aber immer noch löchrigen Blätter müssen nun wieder gefüllt werden. Je nach Größe der Löcher entscheidet sich, ob das sogenannte Anfasern mittels Papierbrei oder Japanpapier erfolgt. Ersteres kommt vor allem bei größerem Befall zum Einsatz. Die zähflüssige Papierzellulose wird als Brei auf die beschädigten Stellen aufgetragen und hinterher getrocknet. Das Japanpapier hingegen kann einfach über die kleineren Mängel geklebt werden. Trotz der fortgeschrittenen Technik dienen die Verfahren lediglich der Papierrekonstruktion; der zerstörte Text lässt sich dabei nicht wiederherstellen. Der Verlust der Information bleibe somit auch nach der Restaurierung irreparabel, konstatiert Feuerstein resigniert.

Unter der Außenhaut des Buches


Mit Feingefühl: Buchbindemeisterin Johanna Kaul entfernt den Buchrücken eines 400 Jahre alten Buches.


Nach der Reinigung folgt der zweite Schritt auf der Agenda. Hier wird die Arbeit tatsächlich noch von Hand verübt und kommt der Vorstellung vom Begriff ›Werkstatt‹ schon wesentlich näher. Über eine riesige Werkbank gebeugt arbeitet Buchbindemeisterin Johanna Kaul mit filigraner Hand an dem Rücken eines schweren Wälzers. Durch das ständige Auf- und Zuklappen des Buches ist das »Rückgrat«, also das Leder unter der »Außenhaut« gebrochen. Vor allem ältere, gebundene Bücher seien nicht dafür ausgelegt, in einem Winkel von 180 Grad geöffnet zu werden. Typische Gebrauchsspuren wie diese lassen sich für geübte Buchbinder wie Johanna Kaul leicht beheben. In einer Art Schraubzwinge wird das neue Leder vorgeformt, damit die »Prothese« aus Originalmaterial hinterher perfekt in das alte Buch hinpasst. Nun muss es »nur noch untergearbeitet werden«, erklärt sie mit ruhiger Stimme, während sie vorsichtig das Leder unter die Außenhaut schiebt. Danach kann das Buch wieder zurück ins Regal.
Eine weitere, häufige auftretende Beschädigung ist das Ausfransen des oberen Randes bei gebundenen Ausgaben. Den Fehler begehen viele, bemerkt Dr. Rohlfing, das Buch am »Kragen« aus dem Regal zu ziehen. Auf Dauer gehe dieser dabei eben kaputt. Besser sei es, die nebenanstehenden Bücher tiefer in das Regal zu schieben. So lässt sich das gewünschte Werk ganz einfach an der »Hüfte« aus dem Regal nehmen.

Seite für Seite


Buchbinder Dieter Freiboth heftet die einzelnen Lagen eines Buches zusammen. Erst danach kann es gebunden werden.


Wesentlich mehr Aufwand und Ausdauer erfordert der letzte Schritt der Restaurierung. Das Binden gehört nach wie vor zu jenen Aufgaben eines Restaurators, die nicht maschinell erledigt werden können und deshalb viel Fingerspitzengefühl verlangen. Schon seit mehreren Stunden sitzt Buchbinder Dieter Freiboth auf seinem Schemel vor dem Gerät, das wie ein selbstgebauter Webstuhl oder eine Harfe anmutet. Der Stapel loser Blätter vor ihm ist schon handflächenhoch, der Stapel daneben allerdings noch einmal genauso. Herr Freiboth wird also aller Voraussicht nach auch den Rest des Tages mit dem Anheften beschäftigt sein. Seite für Seite legt er geduldig auf und vernäht sie mit Nadel und Faden. Auch hier wird ausschließlich Originalmaterial verwendet. Sobald die losen Seiten angeheftet sind, werden die Deckel wieder angebunden. Fertig ist das restaurierte Buch, das nun seinen Weg zurück ins Regal der alten SUB findet. Hier kann es wieder von jedermann eingesehen und gelesen werden, bis die nächste Reparatur anfällt oder die Digitalisierung der gedruckten Version den Rang abläuft.

Schon jetzt gebe die Universität Göttingen mehr Geld für elektronische Medien aus als für die Anschaffung gebundener Werke, beklagt sich Dr. Rohlfing. Dennoch zeigt er sich zuversichtlich: »Ein Buch überdauert 5.000 Jahre, wenn es im guten Zustand ist.« Deshalb bestünde seitens der Digitalisierung keine Gefahr für das Buch. Schließlich habe jede Bibliothek ihre Sonderstellung; der Stellenwert des Gesamtbestandes sei bei jeder einzigartig. »Auch in 50 bis 100 Jahren wird es noch Bücher geben«, prophezeit Dr. Rohlfing. So sicher klingt seine Aussage, fast möchte man meinen, er würde darum wetten wollen. Und genau das hat er getan: Bei einem Vortrag Ende letzten Jahres habe er sich zu einer Wette hinreißen lassen, dass Bücher das nächste Jahrhundert überdauern werden. Seine Werkstatt jedenfalls trägt fleißig dazu bei.



Metaebene
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 Veröffentlicht am 14. April 2011
 Kategorie: Misc.
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