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»Hure hat ne Poesie«

Das Deutsche Theater ist ein Bordell und die Theatergänger sind Freier. In dem dokumentarischen Theaterstück Rotlicht der werkgruppe2 erzählen Sexarbeiterinnen von ihrem Berufsalltag. Vorurteile werden beseitigt, andere bestätigt. Offen bleibt, ob der doppelmoralische Umgang mit Sexualität am Ende tatsächlich hinterfragt oder unsicher weggekichert wird.

Von Leonie Krutzinna

Es gibt Bordelle, wo Ihnen das Herz aufgeht. Hohe Decken, Stuck an den Wänden, schwere Gardinen, Gold an allen Ecken und Enden. Und mit nem Kronleuchter. Also so’n Kronleuchter hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. So groß, so blinkend, so fantastisch. Der auch wirklich den Raum in die entsprechende Atmosphäre bringt. Und dann gehen wir auf eine kleine Reise.

Dabei ist man längst angekommen – in jenem Prachtbau, dessen Samt und Ornamente schon die ideale Kulisse für das liefern, was nun kommt: »Rotlicht«. Das ›Phänomen Prostitution‹ gibt es seit der Antike, heißt: seitdem es Theater gibt. Eigentlich also eine naheliegende Idee, ein Stück über Sexarbeiterinnen zu inszenieren. Und nicht nur die Historie verpflichtet – auch der ökonomische Aspekt dieses umsatzstarken Gewerbes.

Der Blick bleibt an den roten Buchstaben einer Laufschriftanzeige hängen. Namen und Nummern von Sexarbeiterinnen, ihre Adressen greifen nach dem Publikum – als bekannte Straßennamen unweit der eigenen Wohnung, gegenüber der Uni oder in der Innenstadt. Man steckt mittendrin. Das Publikum wird im ›Bordell Deutsches Theater‹ deshalb kollektiv zum Freier. »Ruf sie an«, säuselt es, rhythmisch und eindringlich, mal durchs Megaphon, mal untermalt von Cello, Cembalo und Klavier. Das wird durchgezogen, bis alle neun Frauen ihre Geschichte erzählt haben, Maria, Gerda, Sveta, Katharina, Yvonne, Barbara, Sylvia, Ana und Elena. Sechs Schauspielerinnen mit biographischen Schnipseln, die das Theaterensemble werkgruppe2, basierend auf Interviews mit Sexarbeiterinnen, zu einem beeindruckenden Theatertext verdichtet hat.

Wenn ich unter Kolleginnen bin, sage ich, ich arbeite als Hure, weil das einfach unsere politische Kampfansage ist. Das negative Wort haben wir irgendwann mal umgemünzt. Ich finde Hure hat ne Poesie.

Domina aus Berufung, Escort-Dame fürs schnelle Geld und weil man nebenbei etwas über Botanik lernt. Die Dramaturgie des Stückes fordert, sich anhand der annehmbaren Biographien erstmal locker zu machen, Prüderie abzulegen und sich ein Lachen zu erlauben. Das Ergebnis klingt im Zuschauerraum mitunter wie 9. Klasse Sexualkundeunterricht.

Was ist aber, wenn die eigenen Kinder nichts zu essen haben? Wenn ein »gepflegter älterer Herr« im SM-Spiel stramm steht und sagt: »Jawohl, Frau Obersturmbandführer, ich bin eine alte Judensau«. Oder wenn Gerda als »Sexualbegleiterin« Patienten im Wachkoma sexuell stimuliert oder ins Seniorenheim bestellt wird, weil dort ein alter Mann regelmäßig bei offener Tür in seine Windel onaniert.

Das Stück

von werkgruppe2
Inszenierung: Julia Roesler
Textfassung: Julia Roesler, Anna Gerhards, Silke Merzhäuser
Musikalische Leitung: Insa Rudolph
Dramaturgie: Anna Gerhards, Henrik Kuhlmann
Premiere:
6. April 3013
im Deutschen Theater Göttingen

 

DT


Die werkgruppe2 ist ein freies Theaterensemble mit fester Spielstätte in der einzigen aktiven Pfannensaline Europas, der Saline Luisenhall in Göttingen. Nach verschiedenen Theaterprojekten, die jeweils eine literarische Grundlage hatten, entwickelt werkgruppe2 seit 2009 Interview basierte Dokumentar-Theaterstücke und formt daraus musikalisch theatrale Inszenierungen, immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen im Dialog der einzelnen Kunstsparten. Rotlicht basiert auf Interviews mit Sexarbeiterinnen und untersucht »das älteste Gewerbe der Welt«.
 
 
Wie aufgeklärt geht die Mehrheitsgesellschaft mit Sexualität um? Wie abgeklärt? Rotlicht räumt mit Vorurteilen auf: Sexarbeit ist kein ›Unterschichtenphänomen‹, ist nicht zwangsweise mit Menschenhandel verknüpft, sondern eine Dienstleistung, die allein wegen der Nachfrage floriert. Täglich nehmen laut Angaben von verdi etwa 1,2 Millionen Männer die Dienste von Prostituierten in Anspruch.

Ein einziges Mal bricht das Stück mit seiner dialogischen Struktur zwischen Bühne und Zuschauerraum: Ein Freier als Hase verkleidet hoppelt von Frau zu Frau. Später ist von »Flatrate-Tagen« im Bordell die Rede. Am »Vatertag« ist am meisten los. 32 Kunden hatte Ana an einem Tag. »Und dann eine Woche Pause. Ich konnte nicht arbeiten«.

Prostitution ist in Deutschland legal, 2002 ist das Prostitutionsgesetz in Kraft getreten. Trotzdem wird Sexarbeit in den wenigsten Fällen als sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausgeübt. Und so werden in Rotlicht traurige Vorurteile eben auch bestätigt. 400.000 Sexarbeiterinnen soll es laut Schätzungen der Bundesregierung in Deutschland geben, die Hälfte von ihnen Migrantinnen – darunter viele ohne Papiere, ohne Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis.

Der werkgruppe2 gelingt ein Tabubruch, der über zwei Stunden hinweg den Ängsten und Nöten der Sexarbeiterinnen Raum gibt, ohne das ›Phänomen Prostitution‹ zu dämonisieren. Ein Bühnenstoff, der beweist, dass Prostitution und Poesie eben doch ganz gut zusammengeht. Und manchmal schafft die Poesie es ja auch, in die Realität einzugreifen und etwas zu verändern.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 8. April 2013
 Foto von Isabel Winarsch mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Theaters Göttingen
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