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Wissenschaftliche Rezension
Interaktive Erzählforschung

In den jungen Game Studies tobt ein Gefecht: Ludologen gegen Narratologen. Hans-Joachim Backes Dissertation bleibt neutral und wählt den Weg der Synthese in einer sowohl spiel- als auch erzähltheoretischen Typologie.

von Julia Frese

Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Computerspielen hat sich eine wesentliche Forschungskontroverse herauskristallisiert. Ob die so genannten Games eher als Erzählmedium zu untersuchen sind oder bei ihrer Analyse der Spielkomponente eine höhere Bedeutung zukommt, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Der Debattenschwerpunkt dieser Geister ist im angelsächsischen Raum anzusiedeln.

Da ist beispielsweise Steven Johnson, der sein vielbeachtetes Werk Interface Culture mit der kulturwissenschaftlichen Diagnose schloss: »Our interfaces are stories we tell ourselves to ward off senselessness.«1 In Johnsons Sinne ist Narrativität im Medium Computer, also das narrativ zu denkende Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, offenbar das Produkt des Kampfes gegen die Langeweile, die der Davorsitzende durch das Erfinden von Geschichten von sich fernzuhalten versucht. Auch Marie Laure-Ryan steht eindeutig auf Seiten der Narratologen, bezieht allerdings eine weitaus gemäßigtere Position als viele ihrer Kollegen.2 Sie schreibt Computerspielen lediglich das Potential einer diegetischen Erzählbarkeit zu.

Widerspruch gegen die Verfechter der Erzählmediumsfront übt der noch junge Forschungszweig der Ludologie. Markku Eskelinen entgegnete im selben Jahr, als Marie Laure-Ryan und andere Medienwissenschaftler die erste Ausgabe des International Journal of Computer Game Research aus der Taufe hoben, den narratologisch orientierten Game Studies-Wissenschaftlern pointiert: »If I throw a ball at you I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.«3 Ihm zufolge liegt der Sinn eines Spiels ausschließlich in den Handlungen, die ausgeführt werden müssen, um vom Spielanfang zu dessen Ende zu gelangen, oder konkreter in der Frage begründet: Was muss ein Spieler tun, um zu gewinnen? Und in eine ähnliche Kerbe schlägt Jesper Juul,4 wenn er behauptet, die Frage »Do games tell stories?« affirmativ zu beantworten, bedeutete, es sich auf lang überholten Paradigmen bequem zu machen. In der Wissenschaftsdebatte um Computerspiele werden also zwei sich deutlich voneinander abgrenzende Positionen diskutiert.

Hans-Joachim Backe versucht in seiner Dissertation Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung die differenten Pole unter einen Hut zu bringen, indem er sowohl ludologische als auch narratologische Ansätze in ein neues Modell einbindet. Hiermit verschreibt sich der Autor einem nicht gerade einfachen Vorhaben.

Buch-Info

backe
Hans-Joachim Backe
Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel
Eine typologische Einführung
Königshausen & Neumann: Würzburg 2008
448 S., 48 €

 

Bio

Hans-Joachim Backe ist seit 2008 Lecturer am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Im selben Jahr erschien seine hier besprochene Dissertation im Verlag Königshausen & Neumann.
 
 
In seiner kurzen Mediengeschichte hat das Computerspiel noch ein eher bescheidenes Maß an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum erhalten. Hieran scheint sich seit dem vergangenen Jahrzehnt ein Umschwung bemerkbar zu machen: Mit Dissertationsprojekten wie dem 2001 erschienenen Grenzen spielerischen Erzählens. Spiel- und Erzählstrukturen in graphischen Adventuregames von Klaus Walter, dem 2005 publizierten Werk Narrative Computerspiele.  Struktur & Rezeption von Traudl Bünger sowie der 2007 von Mela Kocher vorgelegten Arbeit Folge dem Pixelkaninchen!  Ästhetik und Narrativität digitaler Spiele, wagt sich die Literatur, Medien- und Kulturwissenschaft schrittweise auf noch wenig betretenes Terrain. Backes Qualifikationsschrift leistet demnach wissenschaftliche Grundlagenarbeit.

Erklärtes Ziel seiner Untersuchung ist es, »erzählende Computerspiele in ihrer Verbindung von Spiel und Erzählung [zu] beschreiben und klassifizieren«.5 Zu diesem Zweck stellt der Autor Überlegungen zu einer medienunabhängigen Erzähltheorie an und erarbeitet entlang verschiedener narratologischer und ludologischer Theoriemodelle schließlich seinen eigenen Forschungsbeitrag.

Doch schon zu Beginn tut sich eine erste Schwierigkeit der Studie auf, denn darüber, wie Backe »erzählende Computerspiele« definiert, gibt nur eine Fußnote Auskunft. Ihr zufolge unterteilt der Verfasser Computerspiele im Hinblick auf ihr narratives Potential in drei Gruppen, deren Charakteristik jeweils in nur einem Satz umschrieben wird. Die daraus folgende, terminologische Ungenauigkeit zieht sich durch das gesamte Werk. So beschreibt Backe die Handlungen, die ein Computerspieler ausführt, um das Spiel voranzutreiben, als »Möglichkeit der Einflussnahme auf den Verlauf der Erzählung«6 und setzt somit bereits voraus, dass der Leser ihm in der Klassifizierung des Computerspielgeschehens als einer Erzählung zustimmt. Nicht nur Ludologen würden zurecht einwenden, dass diese Einordnung nicht vorbehaltlos erfolgen kann, scheinen doch sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene große Unterschiede zwischen der Interaktionssituation eines Computerspiels und einem Erzähltext zu bestehen.

Derartige nomenklatorische Schwächen werden teilweise durch Backes große Gewissenhaftigkeit bei der Einführung in seinen Untersuchungsgegenstand wettgemacht. Die umfassenden, unkompliziert formulierten Erläuterungen zu Beginn der Arbeit, die der Bochumer Komparatist mit vielen Beispielen der Games-Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte veranschaulicht, geben auch dem Computerspiel-Unkundigen eine solide Grundlage für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Im Anschluss an die Heranführung an das Forschungsgebiet beginnt der Autor mit seinem Versuch, sowohl spiel- als auch erzähltheoretische Konzepte auf Computerspiele zu übertragen. Besonderes Augenmerk richtet er dabei zunächst auf die Spieltheorie des Soziologen Roger Caillois, dessen vier Spieltypen er eingehend erläutert und auf die spezielle Interaktionssituation des Computerspielers überträgt. Als narratologisches Fundament seiner Argumentation beruft sich Backe auf die Erzähltheorien David Hermans, Roland Barthes´ und der bereits erwähnten Marie-Laure Ryan.

Aus der Kombination der von ihm vorgestellten Konzepte folgt der Autor einem Untersuchungsmodell von Computerspielen auf drei Ebenen: erstens einer Makrostruktur, die er als den Kontext definiert, in den die Spielgeschehnisse eingebettet sind, zweitens einer Mikrostruktur, welche die »zu lösenden Probleme«7 eines Computerspiels umfasst, und drittens der Substruktur, mit der er den Freiraum für Spieleraktionen benennt. Auf Grundlage dieser Strukturebenen gelangt Backe am Schluss seiner Arbeit zu einer Typologie, die Computerspiele nach dem Grad der Einflussmöglichkeiten des Spielers klassifiziert.

Bis Hans-Joachim Backe allerdings bei seiner Typologie angekommen ist, vergehen rund 350 Seiten Reproduktion fremder Theorien. Für die Erläuterung seines eigenen Modells nimmt sich der Autor den Raum von nicht einmal 70 Seiten. Was ihren Umfang betrifft, ist Backes Dissertation sicherlich eine der ambitionierteren, die bislang zum Thema Computerspieltheorie verfasst wurden. Leserfreundlich ist sie hingegen nicht gestaltet. Dass seine eigenen Ergebnisse vom immensen Theoriengebäude überschattet werden, liegt nicht zuletzt auch am unglücklich gewählten Aufbau von Backes Argumentation. Da diese letztendlich auf sein knapp gehaltenes Partizipationsmodell hinausläuft, verleiht es dem Werk eine beinahe ironische Note, dass Backes eigene Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs sich darin so gering ausnimmt.

Hoch anrechnen muss man der Studie, dass die Einzeltheorien, die zum schlussendlichen Klassifizierungsmodell hinführen, in leicht verständlicher Form präsentiert werden. Wäre der Leser nicht so erschlagen von Fülle und Unübersichtlichkeit der dargebotenen Informationen, könnte dieses Werk, wenn nicht mit bahnbrechenden wissenschaftlichen Neuerungen, so doch nützlichen Erklärungen für Neulinge im Dschungel der narrativistischen Computerspieltheorie dienen.

  1. Steven Johnson: Interface Culture. How New Technology Transforms The Way We Create and Communicate. San Francisco 1997, S. 271.
  2. Marie-Laure Ryan: Beyond Myth and Metaphor. The Case of Narrative in Digital Media (http://www.gamestudies.org/0101/ryan).
  3. Markuu Eskelinen: The Gaming Situation (http://gamestudies.org/0101/eskelinen).
  4. Jesper Juul: Games Telling Stories? A brief note on games and narratives (http://www.gamestudies.org/0101/juul-gts/).
  5. Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens in Computerspielen. Eine typologische Einführung. Würzburg 2008, S. 21.
  6. Ebd., S. 30.
  7. Ebd., S. 359.


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 Veröffentlicht am 9. April 2010
 Kategorie: Wissenschaft
 Bild von Nasos3 via flickr
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 3 Kommentare
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3 Kommentare
Kommentare
 Axel
 12. April 2010, 12:37 Uhr

Ich freue mich sehr einen Beitrag über interaktive Medien zu lesen. Meiner Meinung nach sind die Bestandteile eines Spiels klar in einen erzählenden Teil und einen interaktiven Teil zu trennen. Der erzählende Teil legt den Rahmen um den interaktiven Teil und schmückt diese mit einer Geschichte aus, um den Sinn und Zweck der Interaktion, aber auch um das intuitive Verständnis von Interaktionsmöglichkeiten erreichbar zu machen.

Ein wunderbares Beispiel für eine Erzählung mit Interaktion, in der die Interaktion die Erzählung beeinflusst, ist das Spiel „Fahrenheit“ von „Atari“.

Sehr gut! Ich freue mich auf weitere Lit-Logs die Bücher über Interaktion (gerne auch Spiele) behandeln.

 Fotis
 28. April 2010, 13:57 Uhr

Vielleicht könnte man ergänzen, dass die meisten Ludologen, die die Debatte so aufgeheizt haben, inzwischen (=nach der Etablierung der Game Studies) durchaus bereit sind, zuzugeben, dass in vielen Computerspielen auch Geschichten erzählt werden. Die meisten Narratologen dagegen hatten ohnehin kaum den Anspruch, ein umfassendes Konzept zur Analyse von Spielen vorzulegen. Kurzum, die Debatte spielt heute eigentlich kaum noch eine Rolle, und es spricht wohl eher für die Rückständigkeit der dt.sprachigen Diskussion (typisches Beispiel ist Mela Kochers Arbeit), dass diese Entwicklung weitgehend ignoriert wird.

 Mitch
 30. April 2011, 04:40 Uhr

Stands back from the keyboard in aammezent! Thanks!

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