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Kraft zur Korrektur

Die Graphic Novel hält nun schon seit längerem Einzug in deutsche Regale. Das Spektrum des Genres ist groß, doch ein häufiges Thema scheint die Aufbereitung von Konflikten der Krisenherde dieser Welt zu sein. So geschehen auch in Sarah Gliddens Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger.

Von Wiebke Schuldt

Es ist die typische Struktur eines Bildungsromans, verpackt in lakonisch-witzige Reisesequenzen. Intensiv bereitet sich die in Brooklyn lebende Jüdin Sarah auf ihre erste Reise nach Israel vor. Stapelweise liest sie Bücher über den israelisch-palästinensischen Konflikt, statt zur New York Times greift sie lieber zur linksgerichteten Ha‘aretz. Die Reise selbst soll ein offenes Kapitel im Leben der jungen Künstlerin abhaken: »Ich werde also hinfahren«, erklärt Sarah ihrem Freund Jamil, »und die Wahrheit in diesem Durcheinander suchen. Wenn ich zurück bin, ist alles glasklar.« Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger lautet der ironische Titel der autobiographischen Graphic Novel Sarah Gliddens, in der weniger die politische Situation als der psychodynamische Prozess der Meinungsbildung im Mittelpunkt steht. Wie die pastellfarbenen Wasserfarben zerfließen die für sicher gehaltenen Meinungen über Israelis, Palästinenser und nicht zuletzt das eigene Ego. Die Wahrheit, so stellt sich heraus, gibt es in mehreren Versionen.

Der Anlass der Reise ist die Gelegenheit, im Rahmen der Birthright-Organisation einen zehntägigen Trip durch Israel gesponsert zu bekommen. Doch das Motto der Tour, Geschichte und Politik Israels vorurteilsfrei in vielfältiger Weise zu beleuchten, stellt sich schon nach wenigen Stunden als Farce heraus. Der Reisebus schlängelt sich eng an der Trennmauer entlang, meidet politische Themen und durchquert das Land von Tel Aviv nach Jerusalem auf den Spuren des israelischen Gründungsmythos´. Palästina kommt in den Reden der Tour Guides ausschließlich als Gefahrenquelle vor. Umso schlimmer erscheint es Sarah, dass sie spürt, wie ihre Kritik an Israel immer mehr an Boden verliert, dass sie sich mit der israelischen Position zu identifizieren beginnt. Neben dem Gefühl der Fremdheit und dem Bedürfnis nach Abgrenzung steht auf einmal die Euphorie, im Heiligen Land zu sein.

Mit dieser durchgängigen Reflexion des eigenen Standpunkts steht Gliddens Comic in krassem Gegensatz zu anderen politischen Comics wie etwa Joe Saccos Palästina. Gesteht dieser in seinem Vorwort freizügig ein, sich nach gewissen Erfahrungen auf die Seite der Palästinenser gestellt zu haben, hadert Glidden mit einer einseitigen Stellungnahme und geht gleichzeitig einen Schritt weiter. Zwar ist sie anfangs ebenso voreingenommen wie Sacco, doch steht ihre Graphic Novel im Zeichen der Revision von Vorurteilen. Sie sei davon abgekommen, an die Möglichkeit objektiver Darstellungen zu glauben. Jeder Darstellung haften Meinungen an, denen der Leser ausgeliefert sei, betont sie in einem Interview. Anstelle einer dezidiert einseitigen pro-palästinensischen und anti-israelischen Stellungnahme stellt Glidden die eigene, tendenziell ähnlich ausgerichtete Subjektivität aus. Dennoch steht am Ende kein um Konsens bemühter Kompromiss. Ähnlich wie Marjane Satrapi in Persepolis gelingt es Glidden, die überkomplexe »Situation« dem Leser mit einem kindlich-hoffnungsvollen und vor allem zutiefst humanistisch geprägten Blick näherzubringen, der immer noch seine Spitzen birgt. Hierzu tragen die Zeichnungen, die einen intimeren Blick auf die Persönlichkeit der Künstlerin ermöglichen, ihre Stimme visualisieren, maßgeblich bei. Anstelle von apodiktischer Wut setzt Glidden eine der profunden Unsicherheit geschuldete Unzuverlässigkeit. Meinungen werden in die Runde und dann doch wieder über Bord geworfen.

Buch-Info


Sarah Glidden
Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger
Panini Verlag: Stuttgart 2011
212 Seiten, 24,95 €

 
 
Was konstant bleibt, ist der Wille, zu einem eigenen, authentischen Bild der Situation zu gelangen. Hiermit einher geht das Misstrauen gegenüber den Geschichten anderer. Die Erfahrung, dass gleichaltrige Mitreisende zutiefst konservative Meinungen übernehmen, die durch die pro-israelischen Filme und Reiseführer vermittelt werden, die eilfertige Rede davon, dass der israelisch-palästinensische Friede unmöglich sei, stoßen Sarah vor den Kopf. Bei einer Führung durch ein Kibbuz werden die ersten jüdischen Siedler als Helden dargestellt, die eine trostlose Wüste kultivierten, die nicht gegen die Palästinenser vorgingen, sondern sich nur gegen deren Schikanen zur Wehr setzten. Bezeichnend auch die Reaktion eines Mitglieds der Reisegruppe, das sich über die neuerdings »kapitalistische« Ausrichtung des Kibbuz echauffiert, das alltägliche Unrecht auf den Straßen jedoch unkommentiert lässt.

Letztlich wird jedoch auch Sarah von den Eindrücken und nicht zuletzt auch von den allzu hohen Erwartungen an sich selbst übermannt. Beim Versuch, konsequent beide Seiten zu berücksichtigen, gerät sie an ihre emotionalen und kognitiven Grenzen. Der Anblick jugendlicher, ja geradezu kindlicher israelischer Soldaten verursacht einen nervlichen Zusammenbruch. In Sarahs Kopf vermischen sich Bilder von einem Juden, der von einem Nazi verprügelt wird, von einem palästinensischen Kind, das am Grenzübergang von einem jüdischen Soldaten mit einem Maschinengewehr bedroht wird, und von blutigen Folgen eines Terroranschlags. Im Zuge dieses Bewusstseinsstroms, in dem das darstellerische Potential der Graphic Novel besonders stark zur Geltung kommt, vermengen sich Eindrücke der Reise zu einem sich über alle Zeiten erstreckenden Reigen der Gewalt.

Ich glaube ich bin hergekommen, um mich davon zu überzeugen, dass die Israelis die Bösen sind. Ich wollte sicherstellen, dass ich mich nie mehr darum kümmern muss. Jetzt ist das nicht mehr so klar. Ich weiß gar nichts.

Sprache allein vermag diese existenzielle Unsicherheit nicht zu erfassen. Doch das kognitive, rationale Lesen des Textes wird ergänzt durch die emotionale Spur, die sich vor allem mittels der Bilder etabliert. Dass die Wahrnehmung der politischen Ereignisse affektiv nachvollziehbar wird, ist nicht zuletzt diesem doppelten Erzählmodus der Graphic Novel zu verdanken.

Die Vorstellung, das wahre Israel kennenzulernen, wird immer wieder als Illusion entlarvt – deutlich wird vor allem der an Hybris grenzende Charakter des Vorsatzes, hinter den Vorhang schauen zu wollen: »Ihr wisst nicht einmal etwas über den Vorhang selbst«, hört Sarah am Ende der Birthright-Tour ihren israelischen Bekannten sagen – und muss ihm recht geben. Klagte Sarah während der Tour über die Gehirnwäsche der Birthright-Organisation, so verspürt sie plötzlich eine diffuse Angst, als sie mit ihrer Freundin auf sich allein gestellt ist. Beim Anblick abgerissener Häuser und dem Klang schreiender palästinensischer Kinder sehnt sie sich nach Sicherheit, möchte die Gegensätze der Stadt doch lieber diskutieren, als sie direkt erleben. Schließlich verzichtet Sarah auf die lang ersehnte Fahrt nach Ramallah. »Was soll ich sagen?«, verurteilt sie ihr eigenes Verhalten, »ich bin ein großer Heuchler, rede darüber, dass man seine Vorurteile und Ängste überwinden muss, und schaffe es nicht, 15 Minuten mit dem Taxi zu fahren, wenn niemand meine Hand hält.«

Am letzten Abend, den sie mit einem jüdischen Bekannten in Tel Aviv verbringt, erlangt Sarah eine nur auf den ersten Blick resignative Erkenntnis: »Wir müssen nicht einer Meinung sein. Warum ist es für mich wichtig, was ein Israeli über meinen Standpunkt denkt? Insbesondere wenn man weiß, dass ich gar nicht weiß, welches mein Standpunkt ist und es vielleicht auch nie wissen werde.« Dass Glidden nicht nur ein kritisches Licht auf Widersprüche des Landes Israel und die Institution Birthright, sondern vor allem auf die eigene Einstellung und Wahrnehmung wirft, ist ein Moment, das Gliddens Comic integer wirken lässt. Entsprechend endet die Novel mit der zögerlichen Reaktion auf die Frage, wie es denn so in Israel sei: »Na ja…«. Schnelle Antworten sucht man bei Glidden vergebens.



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 Veröffentlicht am 24. Oktober 2011
 Kategorie: Misc.
 Bildmaterial zu Israel verstehen mit freundlicher Genehmigung des Panini Verlags.
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