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Mit angezogener Handbremse

Das Junge Theater lädt ein zu einem rasanten Trip durch jugendliche Sehnsüchte, große Gefühle und geplatzte Träume. Doch trotz gelungener Inszenierung und überzeugender Darsteller kommen die Crash-Kids nicht richtig in Fahrt.

Von Charlotte Schlie

Noch findet sie nicht die richtigen Worte, die junge Frau, die vor dem kleinen schwarzen Kreuz am Bühnenrand ein paar Rosen niedergelegt hat. Sie schluckt, ringt mit sich – und beginnt schließlich zu erzählen. Zunächst stockend, dann immer leidenschaftlicher lässt sie vor dem Publikum Revue passieren, wie sie sich Hals über Kopf verliebte: in Colly, den unangepassten Draufgänger, der eines Tages – ganz unverhofft – vor der Schule auf sie wartete. Unterdessen betritt Colly selbst die Bühne und unversehens finden wir uns mitten in dem Geschehen wieder, von dem uns gerade noch rückblickend erzählt wurde. Wir erleben nun hautnah mit, wie die 16-jährige Marie Louise (Eva Schröer) und der um einige Jahre ältere Mark Collinsky (Ali Berber) zum ersten Mal aufeinandertreffen, wie sie sich heftig ineinander verlieben und wie vor allem Marie Louise von ihrem Gegenüber hoffnungslos fasziniert ist. Denn Colly ist ganz anders als die anderen und eröffnet ihr eine aufregende, neue Welt: Er ist ein ›Crash-Kid‹, knackt Autos, rast mit ihnen durch die Gegend und steckt sie schließlich zur Spurenbeseitigung in Brand.

Starkes Spiel trotz schwacher Story: Crash-Kids im Jungen Theater

An Collys Seite, auf seinem Beifahrersitz, meint Marie Louise endlich das zu finden, was sie in ihrem spießigen Alltag so sehr vermisst: Freiheit. Nervenkitzel. Und das berauschende Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Begeistert lässt sie sich von Colly zeigen, »wie man richtig lebt«, und als er ihr den Spitznamen Viper gibt, legt sie mit ihrem alten Namen auch ihr altes Leben ab: Sie wird Collys Komplizin, ist von nun an bei jedem Coup dabei, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick.

Vielschichtige Inszenierung mit überzeugenden Darstellern

Ängste und Schwächen will dabei keiner vor dem anderen zugeben – man erhält einzig Einblicke in das Gefühlsleben der beiden Protagonisten, wenn sie an die an den Seiten stehenden Mikrofone treten und das Bühnengeschehen monologartig kommentieren oder wenn auf der großen Leinwand interviewähnliche Sequenzen abgespielt werden, in denen sie die Ereignisse rückblickend beurteilen. Mithilfe dieser Technik werden auch weitere Figuren in die Handlung hinzugeschaltet und kommen zu Wort – allen voran Vipers Mutter, die der Situation zunehmend hilflos gegenübersteht.

Das Stück

Inszenierung/Ausstattung: Sebastian Stolz
Dramaturgie: Nico Dietrich
Mit Ali Berber, Eva Schröer
Premiere:
9. Dezember 2014
Weitere Termine:
26.+30. Januar, 20. Februar 2015

 

Junges Theater

Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Seit September 2014 zeichnen Intendant Nico Dietrich und Tobias Sosinka als Künstlerischer Leiter für die Qualität des Angebots verantwortlich.

 
 
Durch diese Mischung aus Bericht und Spiel, die dem Stück den Charakter einer Dokumentation verleiht, ergibt sich ein vielschichtiges Bild der Protagonisten, das durch die beeindruckende Leistung der beiden Schauspieler noch intensiviert wird: Eva Schröer vollzieht überzeugend Vipers Entwicklung vom naiven Mädchen zur selbstbewussten jungen Frau, die ihre bedingungslose Loyalität zu ihrem Freund zunehmend in Frage stellt; und mindestens genauso überzeugend verkörpert Ali Berber den zwar nach außen hin so selbstbewussten, im Inneren aber sehr verletzlichen Colly, der seiner Ziellosigkeit nicht anders als mit Geschwindigkeitsrausch und Zerstörungswut zu begegnen weiß. Dass Berber sich wegen eines Bänderrisses auf Krücken über die Bühne bewegt, tut seinem Spiel nicht im mindesten Abbruch – vielmehr scheint sein erstaunlich flinkes, energiegeladenes Humpeln Collys Zerrissenheit zwischen äußerer Stärke und innerer Schwäche noch zusätzlich zu versinnbildlichen.

Schwächelnde Story

Doch die starke schauspielerische Leistung der beiden Darsteller kann die inhaltlichen Schwächen des Stücks nicht ausgleichen. Zu klischeebeladen ist die Figurenkonstellation, zu vorhersehbar der Plot, der sich bereits in der Anfangsszene erahnen lässt: Die selbstgeschaffene heile Welt des Autoknacker-Pärchens, das nur für den Moment lebt und keinen Gedanken an morgen verschwendet, bekommt Risse, als Viper ungewollt schwanger wird und sich mehr für ihre Zukunft erhofft als ein Leben auf der Überholspur. Während einer Autofahrt eskaliert die Situation, und der stets auf Kontrolle bedachte Colly verliert die Nerven: Aus dem anfangs verlockenden und scheinbar harmlosen Spiel, aus dem Viper nun buchstäblich nicht mehr aussteigen kann, wird tödlicher Ernst. Am Ende finden wir sie wieder vor dem Grab aus der Anfangsszene – der Kreis schließt sich, die Abbitte wurde geleistet und die junge Frau blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Vorstellungen vom Erwachsensein

Und die Moral von der Geschicht’? Tatsächlich fragt man sich nach der Vorstellung, was einem hier eigentlich Neues geboten wurde. Als »Jugendstück« bewirbt das Junge Theater die Inszenierung, und wirklich erweist sich Crash-Kids als ein Jugendstück par excellence – nämlich insofern, als es in einem fort gängige Klischees über Jugend, Erwachsenwerden und Identitätsfindung bedient, anstatt mit ihnen aufzuräumen. Man wird das Gefühl nicht los, dass das Stück einfach nicht ›funktioniert‹, will es doch einerseits dem jugendlichen Drang nach Ausbruch und Individualität auf die Spur kommen, während es andererseits selbst im Rahmen abgedroschener Klischees verbleibt und mit tausendmal gesehenen Charakteren und einem durch und durch konventionellen Handlungsmuster operiert.

Überzeugend: Ali Berber als Colly und Eva Schröer als Marie Louise

Der Autor Marcus Romer begeht hier offenbar den gleichen Fehler wie sein Protagonist Colly, der das ›richtige Leben‹ mit dem verwechselt, was er dafür hält: Die dem Stück zugrunde liegenden Vorstellungen vom Erwachsenwerden sind streckenweise so stereotyp, dass anscheinend nicht einmal die Jugend selbst sie so richtig ernst nehmen kann, denn die zahlreichen Schülerinnen und Schüler im Publikum lachen nicht nur bei den vielen humorvollen Passagen, sondern auch bei denen, die eigentlich schockieren, berühren oder zum Nachdenken anregen wollen. In diesen Momenten tritt sehr deutlich zutage, dass das Stück trotz der erfrischenden Leichtigkeit auf der Bühne dennoch stets recht bemüht und angestrengt wirkt. Die temporeiche, unterhaltsame und zum Teil sehr amüsante Inszenierung von Sebastian Stolz erhält durch die platte Story einen herben Dämpfer und wird, um im Bild zu bleiben, schlichtweg ausgebremst. Zum Stillstand kommen die Crash-Kids jedoch glücklicherweise nicht – und das verdanken sie in erster Linie ihren beiden hervorragenden Darstellern.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 21. Januar 2015
 Fotos von Dorothea Heise, mit freundlicher Genehmigung des Jungen Theaters.
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