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Theaterjournalismus
Puderstaub und Endorphine

Warmes Licht, Geschnatter und Gelächter dringen aus einer halb geöffneten Holztür: Hier liegt die Maske, das Herzstück des Backstagebereichs. Den schmalen Raum mit der Spiegel- und Neonleuchtenreihe füllen gut anderthalb Stunden vor der Premiere Maskenbildner und Schauspieler: Maskenchef Reinhard verunziert die Wangen und Stirn der Darstellerin Jenny mit einigen großen Tupfen Make-up. Gleichzeitig flicht Petra ihr das lange blonde Haar in eine komplizierte Frisur. Am Abend des 28. Novembers 2012 bereitet sich das Ensemble des studentischen Theaters im OP auf die Premiere seines Stücks Munk oder Das kalte Herz vor.

Von Astrid Schwaner

Im Hintergrund pudert sich Schauspielerin Wiebke selbst das schmale, vom dunkelblonden Pagenkopf umrahmte Gesicht. Auf diesem Gesicht liegt Konzentration, auf den Schultern ein altes Handtuch. Der Stimmenkanon füllt den Raum, ein Telefon klingelt, schnelle Schritte mit Absatzschuhen nähern sich, rutschen auf den Fliesen, ein Schauspieler im Anzug rauscht durch den Maskenraum. Jenny auf dem Schminkstuhl erklärt den Ablauf bis zur Premiere: »Um 19.15 Uhr treffen wir uns mit dem Regisseur Joe und um 19.30 Uhr wärmen wir unsere Stimmen auf. Danach zieht sich jeder zurück, um sich auf die Rolle zu konzentrieren. In der Pause herrschen dann wahrscheinlich noch mal Chaos und Verzweiflung.« »Neeein!«, beschwichtigen die Maskenstudentinnen sie im Chor. Maskenbildner Reinhard begegnet den erregten Vorbereitungen gelassenen und humorvoll. An die Damen verteilt er scherzend Komplimente. Das Radio dudelt Popmusik zwischen dem puderstaubigen Chaos aus Schminkschwämmen, Tiegeln, klebrigen Taschentüchern und einem Gummiohr. Petra besprüht Jennys Flechtfrisur mit Haarspray, das nach Erdbeeren duftet.

Tohuwabohu in der Maske

Regisseur Joe betritt breitschultrig im dunklen Anzug die Maske, schüttelt mir die Hand und geht betont lässig wieder. Er muss hier Ruhe ausstrahlen. Durch den dämmrigen Gang unter den Zuschauertribünen, über blau-weiße Kacheln, vorbei an einer Kunsttanne und dem Bett aus Pappe, folge ich der Licht- und Tontechnikerin Maren in den Zuschauerraum. Weiß und eisig starrt das puristische Bühnenbild zwischen den Zuschauerrängen. Maren stoppt vor einem winzigen Wandkasten. Hier schaltet sie mit ihrem Schlüsselbund den Feueralarm aus. »Das ist heute Abend die wichtigste Aufgabe, sonst geht der Alarm beim Kunstnebel sofort los.«

»Vor der Premiere herrscht hier ein tierisches Chaos. Jeder hat seine eigenen wichtigen Dinge zu tun: Ich wusel in der Technik rum, die Maskenbildner wuseln in der Maske rum und alle sind nervös, stimmt’s, Joe?«, fährt sie fort. »Ich bin nicht nervös, ich stand schon die ganzen letzten Tage unter Strom«, antwortet der Regisseur. Die Technikerin zupft noch einen Vorhang vor den Fenstern zurecht, nimmt ihr Handy zur Hand und besetzt ihren Posten rechts oberhalb der Bühne.

Unten im Aufenthaltsraum witzeln junge Schauspieler in Anzügen, trinken Bier und reißen Zoten. Ihre Ausgelassenheit flimmert angespannt und latent aggressiv – na klar, denn »wir sind im Stück die bösen Jungs, wir müssen uns vorher schon mal ein bisschen einprügeln!«, brummt einer. Ein weiß behemdeter Schauspieler wühlt in Schubladen: »Ich werd‘ bekloppt! Wo is‘ hier ‘ne Nadel?!« Jenny balanciert drei volle Sektgläser: »Ich wollte nur halbe, aber Joe meinte, wir sollten jeder ein ganzes trinken. Hörst du mich noch mal meinen Text ab?«, fragt sie mich und drückt mir ein Sektglas in die Hand. Sie habe in der Generalprobe drei Textpatzer gehabt. Mittendrin müssen wir unterbrechen, denn Joe ruft zur Einstimmung ins so genannte Stahllager.

»Glück auf, der Steiger kommt!«

Im Stahllager – dem Lagerraum für Bühnenmaterial links unter den Zuschauerrängen – versammeln sich alle Schauspieler, Joe kommt hereingeweht. Energisch beginnt er seine Ansprache: »Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll – die Arbeit mit euch war der Hammer! Ein riesen-, riesengroßes Dankeschön an euch alle. Jetzt geht es endlich los.« Dann schwillt der gemeinsame Gesang an: »Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt«, so laut, dass die Wände dröhnen. Mit zerzaustem Haar von der pathetischen Hymne wünscht Joe anschließend viel Glück und verteilt Dankeskarten. Es wird still, weil jeder liest. Dann erhebt sich wieder das Durcheinander. Die Schauspieler spucken einander »Toi, toi, toi« über die Schulter, klopfen einander auf die Schulter, jemand verschenkt passend zur Premiere „Kalte Herzen“ aus Marzipan. Die Versammlung löst sich auf, die Raucher flüchten ein letztes Mal vor die Tür, der Moment lautester Erregtheit ist vorüber.

Theaterjournalismus

Das von LitLog etablierte Veranstaltungsformat Webbasiertes Publizieren setzt im Wintersemester 2012/2013 einen Schwerpunkt auf »Theaterjournalismus«. Im Seminar erarbeiten die Studierenden unter Einbeziehung von Akteuren des Theaterbetriebs theatertheoretische und -ästhetische Kontexte sowie die organisatorischen und künstlerischen Strukturen des Theaters. Auf LitLog werden journalistische Formen wie Interview, Reportage und Theaterkritik zum Thema dokumentiert.
 
 
Wo sind denn auf einmal alle? Die Flure liegen verlassen. Plötzlich schallt mehrstimmig aus einer verschlossenen Tür: »Nein! Nein! Nein! – Blablablabla – Ho, hoi, hu, hui! Alles muss ganz locker werden.« Das ist das Aufwärmtraining mit der Stimmtrainerin Angelika. »Jede Produktion hat ihr eigenes Aufwärmspiel, das während allen Proben wiederholt wird«, verrät eine ehemalige Regieassistentin, die vor der verschlossenen Holztür wartet, um den Schauspielern Glück zu wünschen. Aus dem Zuschauerraum tönt zunehmend Gemurmel herunter. Dann kommen die Schauspieler einer nach dem anderen aus dem Aufwärmtraining, schwer lastet die näher rückende Premiere auf der Stimmung. »Das ist eine ganz sensible Kiste vor der Premiere«, warnt Angelika mit schnarrender Stimme, das Haar streng zurückgebunden und die schwarze runde Brille auf der Nase. »Die Schauspieler stehen jetzt ganz unter Spannung und dürfen auf keinen Fall gestört werden.«

Einige Schauspieler ziehen sich mit Musik in den Kopfhörern in die dunkle Garderobe zurück, andere wandeln durch den gekachelten Flur und sagen sich ihren Text halblaut auf. Die Maske schminkt einige Gesichter nach, sprüht noch eine Wolke Haarspray auf einen Herrenkopf. Ein Schauspieler lugt zwischen dem Vorhang durch: »Es füllt sich.« Fünf Minuten vor der Vorstellung schaltet Reinhard das Radio aus, Wiebke löscht das Deckenlicht und verschwindet in der Garderobe. Das dritte Klingeln treibt die Schauspieler in die Startposition. Die Einlassmusik verstummt, es geht los.

Die Ruhe nach dem Sturm

Die Maske ist plötzlich leer: Die Studentinnen sehen sich das Stück an, Reinhard geht Rauchen. Niemand steht mehr im Weg. Schwämme und Kajalstifte liegen benutzt auf dem Tisch. Es ist so leise, dass das Summen der Neonleuchten stört. In der dunklen Garderobe wird geflüstert. Zaghaft schleicht ein Schauspieler durch die Maske, eine Fliese knirscht. Von der Bühne kann jedes Wort mitgehört werden, das Publikum lacht.

Der Maskenbildner kehrt von seiner Raucherpause zurück. Jetzt ist Zeit für einen Plausch im Flüsterton. »Die Maske ist ein sehr lebendiger Ort mit viel Fluktuation und Endorphinen«, schwärmt Reinhard, der eigentlich Physikingenieur ist und über die Bühnentechnik zur Maske kam. »Hier transformieren sich die Straßen- in Bühnenfiguren. Der Aufenthalt in der Maske ist ein Dazwischen, ein Ritual, um in die Rolle zu finden.« Wiebke und Jenny stöckeln in schwarzen Minikleidern vorbei, Jenny lächelt bang. Ein schwerer Beat lässt die Wände erzittern. »Das Stück ist auch ziemlich hart, glaube ich«, sagt Reinhard. Von linkes stolpern drei Schauspieler erregt durch die Maske, mit roten Gesichtern, einer lacht heiser. Belustigt erzählt Jenny, wie auf der Bühne zwei Gläser fehlten und ein Stuhl falsch stand. Geschäftigkeit verjagt die gespannte Ruhe, bevor die Ruhe die Geschäftigkeit ebenso schnell wieder erstickt. Der Hauptdarsteller René rauscht von rechts durch die Maske und wirbelt Puderstaub in die Nase. Von der Bühne schwingen Streicherklänge herunter.

Kurz vor der Pause ist Jenny zufrieden mit ihren bisherigen Auftritten: »Ich war schon mal besser, aber es gab keine Aussetzer, die das Publikum bemerkt hätte. Im zweiten Akt kommt noch die Antragsszene im Bett und dann sterbe ich auch schon.« Klatschen donnert aus dem Publikumsraum, es ist Pause. Schauspieler springen zum Umschminken in die Maske. In der Garderobe tummeln sich halb nackte Studenten beim Kostümwechsel. René schlüpft ins Jackett und freut sich: »Die fressen uns total aus der Hand! Das macht so Spaß heute!« Musik aus dem Bühnenraum füllt auch die Maske, in der emsig gepudert und gestylt wird. Die Stimmung ist geschäftig, aber gelöst, die größte Nervosität ist vorüber. Jenny ist gespannt auf die Kritiken. Joes Stimme übertönt die Gespräche in der Maske: »Alles ist ganz wunderbar. Hervorragend. Sehr gut.« Im Laufschritt durchquert er den Raum und fügt, schon in der Garderobe, hinzu: »Aber jetzt nicht nachlassen!« Einige Schauspieler wiederholen ihren Text, Anja strickt im Aufenthaltsraum an einer Kuscheldecke für ihre Eltern. Basti hält sein Handy ans täuschend echte Gummiohr, das endlich zum Einsatz kommt. Die zweite Hälfte ist jetzt ein Kinderspiel.



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 Veröffentlicht am 10. Januar 2013
 Foto von Astrid Schwaner
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