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Göttinger Poetikdozentur
Selberlebensbeschreibung?

An Dein Name, dem neuen Roman von Navid Kermani, seines Zeichens habilitierter Orientalist und Schriftsteller, überrascht zunächst der Umfang, ist Kermani bisher doch als Autor von knapper Prosa und Kurzformen in Erscheinung getreten. Sein neues Werk hingegen ist ganze 1232 engbedruckte Seiten lang und damit dicker als alles, was Kermani als Romancier zusammengenommen bisher veröffentlicht hat. Verbindendes Element zwischen seinem früheren Schaffen und dem neuesten Wurf stellt allerdings der Wille zur Form und die Auseinandersetzung mit dem Tod dar.

Von Kevin Kempke

Jean Paul gemäß (zusammen mit Hölderlin einer der Säulenheiligen des Romans), steht in Dein Name das Erhabene neben dem Banalen, das Alltägliche neben dem Einmaligen. Der Roman spielt im Zeitraum von 2006 bis 2011 und gibt in Form eines Journals Auskunft über das Leben eines Romanschreibers. So wie Jean Paul in seinen Romanen regelmäßig Figuren nach sich selbst benennt, so lässt auch der Autor von Dein Name eine Figur namens Navid Kermani auftreten – die wohlgemerkt nicht mit dem empirischen Autor verwechselt werden darf, auch wenn Parallelen zum Leben des Autors mehr als offensichtlich sind. Voyeurismus wäre jedenfalls fehl am Platz. Auch wenn einiges über den Literaturbetrieb zu erfahren ist, hat der Roman mit Klatsch und Tratsch im Stile der Tagebücher von Fritz J. Raddatz nichts zu tun – nach Jean Paul: »Der Roman ist eine veredelte Biographie.« In diesem Sinne spielt Dein Name auf raffinierte Weise mit Fiktionalität und Faktualität und vereinigt dabei verschiedene literarische Formen: Dein Name ist Tagebuch, Essay, Reisebericht, (kunst-)historische Abhandlung und noch einiges mehr. Vor allem aber ist er ein Versuch, die auf Jean Paul aufbauende Poetik des Romans zu verwirklichen.

Ordnung und Zufall

Eine der besonderen Leistungen von Dein Name besteht in der Folge darin, dem Disparaten eine Form zu geben. Denn obwohl der Roman nach Totalität strebt, ist er bedachtsam konstruiert. Ursprünglich sollte alles, so versichert uns der Erzähler, was der Romanschreiber Navid Kermani für sein Buch zu Papier bringt, veröffentlicht werden, Tippfehler inklusive: Der ganze »Abfall«, wie es an einer Stelle heißt. Das würde sich dann wohl ähnlich zäh lesen wie die überambitionierten Versuche des Protagonisten aus Kermanis früher Erzählung Von der Dichtung (erschienen in dem Erzählband Vierzig Leben), wo ein Jung-Schriftsteller »die Unendlichkeit eines jeden potenziellen Gegenstandes« dadurch zu demonstrieren versucht, dass er sich bemüht »jede Einzelheit, die er als Reisender in einem Flugzeug gleichzeitig wahrnahm, dachte oder fühlte,« aufzuschreiben. Eine Anmaßung sondergleichen, der in der Erzählung folglich auch kein Erfolg beschieden ist.

Kermani hingegen beschreitet mit Jean Paul einen anderen Weg: »Es geht darum eine Form zu finden, die die Lebensfülle zwar nicht birgt, das wäre unmöglich, aber den Text zum Unendlichen hin öffnet.« Das als »Erstfassung« trotzdem noch hier und da durch den Roman geisternde Konvolut wird eben nur als Abwesendes heranzitiert und lässt die Kalkuliertheit der 1232 veröffentlichten Seiten umso eindeutiger durchscheinen. Zum Glück, denn an Dein Name beeindruckt nicht zuletzt die Struktur und die Konstruktion, die den Roman durch Ordnung in Thematik (Heiligkeit, Mystik, Religion) und Motivik (z.B. Der Tisch im Büro) zusammenhält und im Verlauf immer deutlicher zutage tritt. Trotz aller Selbstdokumentation und Selbstreflektion handelt es sich um einen sehr lesbaren Roman. Form statt Chaos, Auswahl statt Zufall.

Buch-Info


Navid Kermani
Dein Name
Hanser: München 2011
1232 Seiten, 34,90 €

 
 
Dass der Zufall dennoch ein wichtiges Element des Romans wird, liegt daran, dass Kermani das selbstreferentielle Spiel des Textes zwischen Fiktion und Wahrheit immer dann unterbricht, wenn im Zeitraum der Abfassung eine Person stirbt, die in seinem, dem echten Leben Kermanis, eine bedeutende Rolle gespielt hat. Während die im Roman vorkommenden Figuren in der Regel funktionale Namen haben, wie »der Musiker«, »die Tochter« oder »der bedeutende Schriftsteller«, werden die Toten mit Namen, Daten und Foto geehrt. Die Nachrufe, die daraus entstanden sind, gehören zu den beeindruckendsten Passagen des Romans. Zugrunde liegt diesem Konzept die abermals auf Jean Paul verweisende Auseinandersetzung mit dem Tod, und zwar nicht als allgemeine Einsicht von der Vergänglichkeit alles Irdischen, sondern im Hinblick auf den individuellen Tod, der erbarmungslos ins Leben hereinbricht und den Menschen entsubjektiviert.

Lohnende Herausforderung

Hingewiesen sei ferner auf Kermanis umfangreiche Reiseberichte, die in den Roman eingewoben sind und Einblicke aus Afghanistan, Kaschmir, Lampedusa und dem Iran bieten. Sie zeigen Kermani als politisch aufmerksamen Autoren. Nicht umsonst war er in den letzten Jahren ein gefragter Feuilleton-Redakteur, der regelmäßig zu politischen und religiösen Themen Stellung bezog (ein Umstand, den er wiederum im Roman reflektiert). Nach ungefähr einem Drittel des Romans nimmt auch die »Selberlebensbeschreibung« vom Großvater des Romanschreibers eine wichtige Rolle ein, die vielfach vom Erzähler kommentiert auch die Migrationsgeschichte der Eltern enthält und zudem einen Abriss der iranischen Geschichte im 20. Jahrhundert beinhaltet. Fern von sogenannter »Multi-Kulti-Literatur« liefert der Roman nebenbei auch einen interessanten Beitrag zur Integrationsdebatte und vereint islamisches Glaubensbekenntnis mit Ideologiekritik und Aufruf zu religiöser Toleranz.

Dein Name stellt zweifellos eine Herausforderung dar und es braucht ein bisschen Ausdauer, um über einige hin und wieder etwas trockene Passagen hinwegzukommen. In seinen tollen Momenten (und davon gibt es nicht zu wenige) hingegen handelt es sich bei Kermanis neuem Roman um inspirierte Prosa, die romantheoretische Akrobatik mit treffenden Einsichten ins Leben und Sterben sowie der Frage nach Subjektivität verbindet und dabei vor allem das Erzählen nicht vernachlässigt. Indem in Dein Name alles unter dem Bann von Tod und Vergänglichkeit zu stehen scheint, öffnet der Roman die Perspektive zum Leben, in dem der Tod wütet und Lücken hinterlässt – ein Versuch das Unfassbare fassbar zu machen. Um mit Hölderlin zu schließen: »Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.«



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 5. Dezember 2011
 Kategorie: Belletristik
 Hinke Luiten Glasvezel met licht von Ronald Deventer via flickr.
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