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Sind wir nicht alle jemandes Ernte?

Der Wiesbadener luxbooks Verlag hat im Frühjahr 2013 einen wunderbaren Band mit Kurzgeschichten der US-amerikanischen Autorin Amy Hempel in deutscher Übersetzung herausgebracht. Die Ernte ist ein Sammelsurium von Momentaufnahmen, kuriosen Geschichten und scheinbaren Banalitäten. In ihrer pointierten und gefeilten Sprache bringt Amy Hempel Unzusammenhängendes mit großem sprachlichem Gespür für Unscheinbares zusammen. Die Ernte ist eine echte Entdeckung.

Von Lilly Günthner

In Deutschland ist die Schriftstellerin Amy Hempel wohl den Wenigsten ein Begriff. Während ihre Erzählungen in den USA längst als moderne Klassiker gelten und Amy Hempel als Meisterin der Short Story angesehen wird, ist ihre minimalistische Prosa in Deutschland noch weitestgehend unbekannt. Nach ihrem 1985 veröffentlichten Debüt Reasons to Live hat die 1951 geborene Autorin erst drei weitere Bände mit Kurzgeschichten geschrieben. Der luxbooks Verlag hat nun einen dieser Bände, der im amerikanischen Original bereits 1990 unter dem Titel At the Gates of the Animal Kingdom erschienen ist, erstmals auf Deutsch herausgebracht. Übersetzt wurden die 16 Erzählungen von Jakob Jung.

Der erste Satz ist wichtig. Der Anfang einer Geschichte muss stimmen, muss im besten Fall einen Sog entfalten, dem sich die Lesenden nicht entziehen können. Amy Hempel ist eine Meisterin der ersten Sätze. Sie kann eine Geschichte von Anfang an so erzählen, dass sie einnimmt, in ihren Bann zieht und auch nach der Lektüre nicht loslässt, mag sie auch noch so kurz sein. Denn das ›Short‹ der Short Story nimmt Amy Hempel in vieler Hinsicht sehr ernst. Selten sind ihre Erzählungen länger als drei oder vier Seiten, tendenziell kürzer. Da ist zum Beispiel die mit Im Tierheim überschriebene halbe Seite. Eine Momentaufnahme, die das Schicksal schöner Frauen und trauriger Tiere im Tierheim schildert. Beide werden verlassen: die Frauen von Männern und die Tiere von den Frauen, die ihren Schmerz auf die traurigen Geschöpfe im Tierheim übertragen und diese verlassen. Aus der Aneinanderreihung solcher Momente kann bei Amy Hempel eine Geschichte werden. Auch wenn die einzelnen Elemente auf den ersten Blick oft nichts miteinander zu tun haben und kein Zusammenhang zu bestehen scheint, beweist Amy Hempel, dass auch oder gerade so wundervoll erzählt werden kann. Sie sagt viel, indem sie viel nicht sagt. In einem ihrer seltenen Interviews im »Paris Review« aus dem Jahr 2003 schildert sie, dass es für sie immer um den Moment geht. Aus vielen Momenten wird eine Geschichte. Das Schlaglichtprinzip der Kurzgeschichte wird von ihr noch verschärft: was bleibt ist der Moment. Die Reduktion ist auch stilistisches Mittel. Ihr Schreiben sei, so erzählt Amy Hempel in eben diesem Interview, von ihrer anfänglichen journalistischen Tätigkeit beeinflusst. Der minimalistische Schreibstil, der ›grabber‹, der ihre starken ersten Sätze erklärt und das Prinzip, dass alles Überflüssige weg muss. Es geht darum, das Richtige auszulassen und mit dem Wenigen alles zu sagen. Es bleiben präzise, gefeilte Sätze in denen jedes Wort mit Bedacht gewählt und gesetzt ist.

Buch-Info


Amy Hempel
Die Ernte
Erzählungen
luxbooks: Wiesbaden, 2013
113 Seiten, Broschur: 14,90€

 
 
Thematisch drehen sich die Erzählungen beinahe alle um körperliche Versehrtheit, Krankheit und Tod. Die Schwierigkeiten menschlicher Bindungen und die Angst davor spielen häufig eine Rolle. Immer wieder kommen Tiere vor, meistens Hunde. Die Erzählungen schildern Alltagssituationen, scheinbare Nichtigkeiten, die sich in Amy Hempels pointierter Sprache als Indikatoren essenzieller Fragen menschlicher Belange erweisen. Besonders stark ist die titelgebende Erzählung Die Ernte. Hier wird das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, vom Erzählen und der Realität verhandelt. Die weibliche Erzählerin, die von einem schlimmen Verkehrsunfall und ihrem anschließenden Krankenhausaufenthalt berichtet, sagt, nachdem sie die Begebenheiten geschildert und das Gesagte anschließend revidiert hat: »Ich lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage. Gleiches gilt wenn ich eine Geschichte schreibe«. Das Erzählen wird reflektiert. Im Erzählprozess wird automatisch verändert und abgewandelt, so die Erkenntnis, denn »nichts ist jemals ganz so schlimm wie es hätte sein können« – konstatiert die Erzählerin in ihren Reflexionen. Sie verbringt ihre Abende auf der Dialysestation und begegnet einem Jungen, der auf ein Spenderorgan wartet. Auf die Ernte, wie er sagt.

Amy Hempels Geschichten sind mitunter kurios und erzählen von Ungewöhnlichem, es geht ihr, so sagt sie, nicht um den Plot und darum Zusammenhänge zu erzählen. Sie will sprachlich zu etwas Klarerem und Tieferem vorstoßen, das auf diese Weise vorher noch nicht gesagt worden ist.

Der luxbooks Verlag hat mit Die Ernte einer wunderbaren Erzählerin die Aufmerksamkeit gegeben, die sie in anderen Ländern schon hat und auch in Deutschland hoffentlich bald bekommt. Eigentlich eher für Lyrikübersetzungen bekannt, hat der Wiesbadener Verlag seit neustem die Reihe »Ohrensessel« als Teil des Verlagsprogramms ins Leben gerufen. Amy Hempels Die Ernte ist eine der ersten Veröffentlichungen dieser Reihe, die sich Romanen und Erzählungen der Gegenwart verschrieben hat. In den nächsten Jahren sollen alle Erzählbände von Amy Hempel bei luxbooks erscheinen. Endlich.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 17. Oktober 2013
 Kategorie: Belletristik
 Bild von hotblack via morguefile
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