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Soziales Panoptikum

Spätestens seit George Orwells 1984 haben Totalitarismus und Diktatur in der Weltliteratur Konjunktur. Rashid Ben Dhiab wirft einen Blick auf eine der neuesten Aktualisierungen dieses Stoffes, die Dave Eggers mit seinem Circle aus dem Verlag Kiepenheuer & Witsch vorlegt. Ein Buch, das Vernetzung und Transparenz als so verlockend wie versklavend entlarvt.

Von Rashid Ben Dhiab

Die bloße Erwähnung von George Orwells Roman 1984 genügt bereits, um Begriffe wie ›staatliche Überwachung‹, ›Zensur‹ und ›Denunziantentum‹ durch den Kopf schnellen zu lassen. Wie kein anderes Werk steht Orwells Dystopie um den Untergang des Freidenkers Winston Smith für eine Vielzahl an Erzähltexten, in denen das Individuum einer Norm – meist von einem totalitären Regime diktiert – unterworfen und permanent auf Abweichungen überprüft wird. Wer durch das gesellschaftliche Sieb der Angepasstheit fällt, wird ausgeschlossen und vernichtet.

Allerdings war Orwell weder der Erste noch der Letzte, der dieses Thema bearbeitete. Bereits 1920 zeichnete der russische Schriftsteller Jewgenij Samjatin mit dem Roman Wir eine von Mathematik beherrschte Gesellschaft, deren Mitglieder Nummern statt Namen tragen und in gläsernen Häusern leben. Prominenter ist Aldous Huxleys Schöne neue Welt von 1932, die dem staatlichen Überwachungsapparat ein genetisches Kastensystem zur Seite stellt. Eines haben die drei Werke allerdings gemeinsam: Sie alle zeigen eine Welt, in der totalitäre Strukturen bereits das Individuum überwuchern und zum gläsernen Bürger gemacht haben, der unter ständiger und allgegenwärtiger Kontrolle steht. Dave Eggers wählt für die Handlung seines 2014 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen Romans Der Circle einen anderen Ansatzpunkt. Auf 560 Seiten erzählt er die Geschichte der 24-jährigen Mae Holland, neueste Mitarbeiterin des sympathischen Internetkonzerns »Circle«.

Vernetztes Arbeitsklima

Mae Holland ist jung, dynamisch und nach Jahren in einem langweiligen Job auch endlich erfolgreich. Durch die Hilfe ihrer Freundin Annie wird sie in der Kundenbetreuung des Circle angestellt und beginnt einen raschen Aufstieg in die Führungsebene des Konzerns. Alles scheint perfekt. Der Circle bietet Mae jeden nur erdenklichen Komfort: Von Spitzenköchen zubereitetes Essen in der Kantine, die neuesten Mobiltelefone und Tablets auf Firmenkosten, Wohnmöglichkeiten direkt auf dem Firmencampus, Konzerte von Weltstars zur Unterhaltung und stets freundliche Kollegen. All ihre persönlichen Daten schweben durch die Circle-Cloud, um immer und überall für sie abrufbar zu sein.

Buch


Dave Eggers
Der Circle
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2014
560 Seiten, 22,99 €

 
 
Nicht einmal mehr auf ihre Gesundheit muss Mae selbst achten, als ihr bei einem Besuch der betriebsinternen Ärztin ein Sensor eingepflanzt wird, der ihre Vitalwerte überwacht und für alle Mitarbeiter einsehbar ist. Kollegen geben Ernährungstipps und die Ärztin schreibt ihr eine Diät vor, sollten bestimmte Werte nicht der Norm entsprechen. Ein Motiv, das man in ähnlicher Form bereits 2009 in Juli Zehs Roman Corpus Delicti gesehen hat, wo ein ganzes Gesellschaftssystem auf dem verantwortungsvollen Umgang mit der Gesundheit basierte. Alle Circler, wie die Angestellten sich selbst nennen, sind miteinander vernetzt und bilden eine eigene Gemeinschaft, die auf vollkommener Transparenz basiert. Wer Geheimnisse hat, seinen Tagesablauf nicht minutiös dokumentiert und im sozialen Netzwerk an Aktivität und Initiative vermissen lässt, wird mit Misstrauen betrachtet. Das wie eine Transparenzsekte anmutende Arbeitsklima des Circle beschränkt sich allerdings nicht auf die gläsernen Bauten des Firmencampus. Der Konzern hat weitreichendere Ziele.

Anonymität ade

Der Circle ist zum zentralen Knotenpunkt und damit auch Zugangsportal des Internets geworden, indem er alle sozialen Netzwerke und Suchmaschinen in sich vereint und die Konkurrenz verdrängt hat – ein Amalgam aus Facebook, Twitter und Google. Wer das World Wide Web nutzen möchte, muss ein Profil mit seinem echten Namen und Foto anlegen. Niemand kann sich mehr online hinter einem Alias verstecken, alle Handlungen und Äußerungen sind sofort zurückverfolgbar. Der Cyberspace wird zur erweiterten Öffentlichkeit, in der gesellschaftliche Konventionen so zwingend zu achten sind wie im realen Leben. Mit der Anonymität sind auch Beleidigungen und Belästigungen im Internet verschwunden, die Online-Kriminalität kaum noch vorhanden. Harmonie, Egalität und Frieden durch völlige Transparenz. Ein Raum, in dem die Privatheit ihr Ende gefunden und in eine post-private Gesellschaft mündet, in der sich niemand durch Anonymität und Informationsvorteile über andere Personen stellen kann. Welcher logische Schluss läge näher, als dieses Verfahren auf alle Bereiche des Lebens zu applizieren?

Schließung des Kreises

Überall auf der Welt hat der Circle im Rahmen seines »SeeChange«-Projekts an bestimmten Punkten nahezu unsichtbare, hochauflösende Kameras anbringen lassen, die ganze Gebiete audiovisuell überwachen und ihre Daten direkt an den Circle senden. Jeder Internetnutzer kann auf die Streams zugreifen und beobachten, was aufgezeichnet wird. Doch die Abdeckung ist noch längst nicht ausreichend, um völlige globale Transparenz zu gewährleisten. Die Lösung: mobile Kameras an Menschen anbringen. Nach einem Langzeitexperiment mit einem Circle-Mitarbeiter lassen sich die ersten Politiker auf das Projekt ein und offenbaren der Welt ihr gesamtes Leben zu jeder Zeit, um so näher an den Wählern zu sein und Authentizität sowie Transparenz zu propagieren.

Auch Mae selbst gibt kurze Zeit später ihre Privatsphäre auf und wird zum SeeChange-›Maskottchen‹, mit einer stetig wachsenden Zahl an Followern. Bereits vollkommen von der Firmenpolitik des Circle indoktriniert, treibt sie die globale Transparenz immer stärker voran. Der Circle wächst durch den zunehmenden Transparenzdruck in der Gesellschaft zu einer Institution heran, die ab der zweiten Hälfte des Romans durch den Einsatz sozialer Medien ganze Regierungen zu Fall bringen kann und seine Kontrolle noch weiter ausbaut. Dabei nimmt er nun endgültig totalitäre Züge an, die nur allzu vertraut erscheinen.

Man made Big Brother

Die Anleihen an 1984 sind offensichtlich und – wie die von Mae formulierten Grundsätze des Circles, die auch im Schriftbild an die ideologische Doktrin des Engsoz aus Orwells Werk erinnern – teils derart plump in den Text implementiert, dass sie eher ein Schmunzeln entlocken, als zum Nachdenken anzuregen. Mit dem Unterschied, dass Der Circle ein totalitäres System in der Entstehung zeigt und abbildet, wie sich unsere heutige Gesellschaft mit ihrem permanenten Mitteilungswahn und kompletter Vernetzung eigenhändig und all sehenden Auges in den Abgrund stürzen könnte. Dabei greift Eggers nicht auf fantasievolle Technologie-Spielereien zurück wie viele andere Science-fiction-Autoren, sondern extrapoliert lediglich unseren heutigen technologischen Stand und zeichnet damit das Bild einer erschreckend realistischen Zukunftsvision, die in weniger als einem Jahrzehnt Wirklichkeit sein könnte und es teilweise heute schon ist.

Dies macht auch die eigentliche Faszination des Romans aus, der auf erzählerischer Ebene ausgesprochen schwach erscheint. Den eindimensionalen Figuren fehlt jegliches Identifikationspotenzial. Allen voran Mae selbst, deren Naivität und Ergebenheit gegenüber dem Circle unrealistisch ist und an Lächerlichkeit grenzt. Zu keinem Punkt hinterfragt sie die Motive ihres Arbeitgebers, hat keine Einwände gegen die Überspielung all ihrer privaten Daten auf die Firmenserver oder die Einpflanzung eines Sensors in ihren Körper. Stattdessen verhält sie sich geradezu wie eine devote Dienerin einer neuen Religion. Sie entfremdet sich von ihren Eltern, die sie gegen deren Willen in die Öffentlichkeit zwingt und wehrlos einem Millionenpublikum ausliefert. Exfreund Mercer treibt sie in den beruflichen und privaten Untergang, als sie den Bekanntheitsgrad durch den Circle steigern will. Selbst Annie wird von Maes Eifer überrollt und fällt durch einen Schock ins Koma. Am Ende hat Mae unbewusst ihre Freunde und Familie durch die Masse der Circler ersetzt, reflektiert jedoch nicht und ist noch mehr denn je blind von ihrem Tun überzeugt.

Auch die wenigen restlichen Figuren bleiben statisch, verharren bis zum Schluss in ihren klischeehaften Startpositionen. Ein Beispiel ist Tom Stenton, einer der CEOs des Circle, der von Beginn an ein absolut durchschaubarer Manager mit fragwürdigen Motiven ist, für den der Profit alle Mittel heiligt. Er versteckt sich nicht hinter scheinbarer Güte wie ein O’Brien aus 1984, um unerwartet die Protagonistin in eine Falle zu locken. Keine doppelten Böden, keine charakterliche Veränderung oder Entwicklung. Ironischerweise ist er dadurch dem Leser so transparent, dass er kaum ausgearbeitet und leer wirkt, ohne eine tatsächliche Persönlichkeit. Hinzu kommt eine spannungsarme Handlung ohne Höhepunkte oder Überraschungen, die sich in den ausgetretenen Pfaden ihrer literarischen Vorbilder bewegt, ohne jemals eine neue Abzweigung zu nehmen. Einzig das Szenario an sich und dessen zeitliche Positionierung machen den Roman zu einem lesenswerten Werk, das allerdings nicht die Zeitlosigkeit von Orwells Klassiker erreichen dürfte. Dafür wird Eggers’ Vision durch ihre Aktualität und den realitätsnahen Ansatz zu schnell überaltern und von der Zeit eingeholt werden. Eine gute Idee, die interessante Fragen aufwirft und Denkansätze bietet, literarisch jedoch bestenfalls mittelmäßig umgesetzt wurde.



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 Veröffentlicht am 16. März 2016
 Kategorie: Belletristik, Misc.
 spiked circle via Flickr
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