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Unter Luftschloss-Architekten

Hundert Jahre nach Frank Wedekinds Tod hat der Wallstein-Verlag eine vorzügliche Satire ins Sortiment aufgenommen: die Hochstapler-Tragikomödie Der Marquis von Keith. Damit ist der erste Teil einer Reihe von Wedekind-Editionen erschienen, die für ein breites Publikum erschwinglich sind.

Von Stefan Walfort

Dass alles den Bach runtergehen wird, ist von Anfang an klar. Während von Keith noch halb München zum Narren hält und Gott und die Welt glauben machen will, sein geplanter »Feenpalast«, ein zum Vergnügungs-Center ausgebautes Mega-Theater, sei »so gut wie gesichert«, ahnen die LeserInnen längst: Das Projekt wird vor die Wand gefahren. So viel deutet nämlich schon der Umschlagtext an. Dem Lesevergnügen schadet das nicht; unser Informationsvorsprung gegenüber manchen Figuren erweist sich als hervorragendes Vehikel, um Komik zu maximieren. Beispielsweise stellt von Keith seinen Bekannten: Schauspielerinnen, Sängerinnen, Laien, die sich bei näherer Betrachtung allesamt als künstlerische Nichtsnutze erweisen, lukrative Engagements in Aussicht. Wäre doch gelacht, wenn die sich nicht kurzerhand zu Stars ausbilden ließen ‒ so lautet die auf Größenwahn und grenzenloser Naivität fußende Idee, die ihn zu versprechen drängt: »Ich schwöre Ihnen, meine Göttinnen, daß wir ohne Sie den Feenpalast nicht eröffnen werden!« Mit vollen Händen wirft er einem erfolglosen Komponisten einen Vorschuss in den Rachen. Das Geld hat von Keith seinem wohlhabenden Kumpel Ernst Scholz aus dem Kreuz geleiert. Spätestens hier wird unübersehbar, auf welch wackligen Füßen das Vorhaben steht. Für die Träumer unter den Figuren hingegen steht die Erkenntnis noch aus.

Von Keith inszeniert sich als Aufsteiger, dem der niederen Herkunft wegen besonders viel an Ehrlichkeit liege. Zwar ging schon beim Erwerb seines Adelstitels nicht alles mit rechten Dingen zu, doch für die meisten ist längst Gras darüber gewachsen. Kaum jemand hält ihn nicht für einen Krösus, und damit das so bleibt und alle brav die Füße stillhalten, lässt er sich schon zum Frühstück Kaviar, Austern und Champagner servieren. Weitestgehend unbemerkt kreist indessen über seinem Dach der Pleitegeier. Nicht einmal für die Miete genügen seine Einkünfte. Nur seine zusehends in Kummer versinkende Gattin Molly bekommt mit, wie unergiebig sämtliche Versuche sind, an Kohle zu kommen. Für Gemälde, die von Keith verkaufen will, findet er keine Abnehmer. Artikel, die er bei Redaktionen einreicht, scheinen unter aller Sau zu sein, räumt er doch selber ein, dass er lieber flugs etwas aufs Papier hudelt, statt sorgfältig zu formulieren.

Während Molly unter seiner vorgetäuschten Omnipotenz zerbricht, behauptet er anderen gegenüber großspurig: »Ich treibe Kunsthandel, ich habe eine Zeitungskorrespondenz, eine Konzertagentur«. Und Scholz wickelt er mit jeder Menge Optimismus um den Finger. Trickreich weist von Keith zunächst alle Angebote des Freundes, ihn finanziell zu unterstützen, zurück ‒ doch nur, damit schon bald die falsche Bescheidenheit einem ungezügelten Anspruchsdenken weichen kann. Fortan bestärkt er Scholz in dessen Glauben, dass er der Allgemeinheit einen unschätzbaren Dienst erweist, wenn er Unmengen an Geld zum »Feenpalast«-Projekt beisteuert.

Als die Investoren eines Tages die Geschäftsbücher einsehen wollen und auf Ungereimtheiten stoßen, ist der Gipfel der Tragik allmählich erreicht. Trotz allem verlangt der Möchtegern-Marquis, Scholz solle gefälligst weitere kürzlich in Aussicht gestellte »zehn- oder zwanzigtausend Mark« oder gerne noch bedeutend mehr in das Fass ohne Boden pumpen. Sehenden Auges rennt von Keith ins offene Messer. Etliche Vertraute droht er mit ins Unglück zu reißen. Aber nicht einmal die kommenden Katastrophen stimmen ihn reumütig. Verbissen hält er an seinem nicht allzu cleveren Lebenswandel fest. Was einzig für ihn einen Sinn ergibt, ist und bleibt die Jagd nach Zaster.

Alle gegen alle

»Je höher ich gelange, desto vertrauensvoller kommt man mir entgegen«, so lautete bis dato das Prinzip, das von Keith sich zunutze machte. Damit dockt das Stück an eine Tradition der Hochstapler-Literatur an, die von Vorbildern wie Gottfried Kellers Kleider machen Leute geprägt ist. Der Irrsinn, ein jedes nachvollziehbare Maß sprengendes Vertrauen allein aufgrund des schönen Scheins vorzuschießen, greift auch dort epidemisch um sich. Auch bei Keller sorgt er für Komik. Nur finden die dortigen Ereignisse rund um die deutlich weniger von Eigennutz getriebene Hauptfigur Strapinski ein friedlicheres Ende als bei Wedekind, wo sich von Keith aus Egoismus regelrecht eine Religion zusammenspinnt. Bei Wedekind kämpfen alle gegen alle. Von Keith ist nur der windigste unter lauter Luftschloss-Architekten. Abseits des Hauptkonflikts um den »Feenpalast« leisten sich die Figuren diverse Nebenkriegsschauplätze. Vor allem wenn es um die Liebe geht, gönnen sie sich keine Geländegewinne. Lieber zerstören sie einander sämtliche Illusionen. Wer konfliktträchtiges Drama verehrt, kommt also voll auf seine Kosten.

Buch


Frank Wedekind
Der Marquis von Keith
Wallstein Verlag 2018
152 Seiten, 16€

 
 

Leider sind aus Wedekinds vielseitigem Gesamtwerk nur wenige Kostbarkeiten dauerhaft im kulturellen Gedächtnis der Öffentlichkeit verankert geblieben. Bekannt ist vor allem noch das regelmäßig im Schulunterricht gelesene Pubertäts-Schauspiel Frühlings Erwachen. »Der Großteil des Œuvres aber, die zahlreichen Dramen, die Lyrik […] und ein recht umfangreiches Prosawerk, ganz zu schweigen von den zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Texten, scheint derzeit weder im Bewusstsein der literarisch interessierten Öffentlichkeit noch in der Forschung präsent. Dabei liegt das Werk des Autors inzwischen in einer kritischen Gesamtausgabe vor«1, so konstatiert Ariane Martin, die Leiterin der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der Uni Mainz.

Auf die kritische Ausgabe stützt sich auch die neue bei Wallstein erschienene, von Ariane Martin für ein breites Publikum aufbereitete und preisgünstige Edition des Marquis von Keith, der demnächst weitere Wedekind-Schätze folgen sollen. Im Nachwort der neuen Edition behauptet die Herausgeberin: »In der Weimarer Republik wurde das Stück zum Bühnenklassiker, der er noch heute ist […] wenn auch nicht gerade in hoher Aufführungsdichte«. Auch im Umschlagtext ist Der Marquis noch einmal explizit als »Bühnenklassiker« ausgewiesen. In den letzten Dekaden war er aber nur einmal, im Jahr 2001, am Volkstheater München zu sehen, danach erst wieder 2010 am Staatstheater Kassel. Keines der einschlägigen Rezensionsorgane hat ihn je mit einer Besprechung gewürdigt. Selbst den Jahrbüchern der Frank Wedekind-Gesellschaft Darmstadt ist er kaum einer Erwähnung wert. Wir haben es also mit einem »Klassiker« zu tun, der es so gut wie nie auf die Bühne schafft? Im Ernst?

In Stein gemeißelte Prunksucht

Tatsächlich steht eine Vitalisierung des Stücks eher noch aus, was bedauerlich ist, gehört es doch von der literarischen Qualität her in die erste Liga. Wie es am Beispiel dilettantischer Künstlerfiguren einen im München der Jahrhundertwende grassierenden, nahezu manischen Wagnerkult auf den Arm nimmt, ist einfach einmalig. Selbst Thomas Mann als glühender Wagner-Verehrer konnte solchen Kniffen eine Menge abgewinnen. Nebenbei hebt sich Der Marquis im Spiel mit ironisch gebrochenen »Wirklichkeitsversatzstücken«, wie Ariane Martin prägnant zusammenfasst, auf innovativ-experimentelle Weise vom Naturalismus ab und lässt sich damit als eine »radikale Satire auf die bürgerliche Gesellschaft […] begreifen […], die sich auch durch gattungsgeschichtliche Reflexion konstituiert«.

Mit dem Zinnober rund um den »Feenpalast« karikiert sie ein in Stein gemeißeltes Symbol für Prunksucht, das in München ein real existierendes Vorbild fand: in der Gründung des Deutschen Theaters unter der Ägide Emil Meßthalers. Unter ihr platzte nicht nur der Traum vom Publikumsmagneten; auch wanderte mutmaßlich »ein Drittel seines Jahresbudgets für die Bezahlung des Ensembles […] in die eigene Tasche«. Elke Austermühl hat den Fall akribisch rekonstruiert.2 In der neuen Wallstein-Edition finden die LeserInnen alles Wesentliche dazu präzise zusammengefasst. Ferner stößt man auf Auszüge aus einer Reihe um 1900 publizierter Verrisse. Offenbar übergoss der Großteil der deutschen Rezeption Wedekind damals mit Spott. Nicht nur die Berliner Uraufführung von 1901 oder andere möglicherweise tatsächlich misslungene Inszenierungen wurden durch den Kakao gezogen. Der Großteil derer, die sich äußerten, hielt den Plot von Grund auf für Kokolores.3

Solche Pauschalurteile schreien geradezu nach Revision. Eines Tages wirklich zu einem Bühnenklassiker zu avancieren, hätte Der Marquis sicher mehr als verdient, zumal es nie an Aktualitätsbezügen mangelt. Gegenwärtige Skandale in der Berliner Theaterlandschaft liefern dafür Exempel am laufenden Band: Gerade ein Jahr ist es her, seit die Kulturpolitik Oliver Reese ans Berliner Ensemble berief, schon steckt das Haus am Schiffbauerdamm im Schlamassel.4 Etwa zeitgleich löste Chris Dercon den Volksbühnen-Chef Frank Castorf ab, nun sehen sich die SkeptikerInnen der ersten Stunde durch die Realitäten am Rosa Luxemburg-Platz in ihren düstersten Prophetien überboten.5 Auch der Blick ins Nachbarland Österreich dürfte allen TheaterfreundInnen Schweiß auf die Stirn treiben: Seit Jahren ächzt das Burgtheater unter einem millionenschweren Finanzdesaster.6 Bei solchen Auswüchsen verwundert, dass Der Marquis nicht längst rauf- und runtergespielt wird. Vielleicht gelingt es der neuen Wallstein-Edition, einen Beitrag zu leisten, um diesem Stück, das die Bühnen ungerechterweise in der Versenkung haben verschwinden lassen, endlich zu mehr Popularität zu verhelfen.

  1. Martin, Ariane: »Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben.« Zum 100. Todestag Frank Wedekinds (1864‒1918). In: Zeitschrift für Germanistik 1 (2018), S. 102.
  2. Austermühl, Elke: Münchner Szenen im »Marquis von Keith«. In: Text + Kritik 131/132 (1996), S. 70-76.
  3. Zu den wenigen Fürsprechern gehörten Hermann Bahr, Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn. Darüber hinaus hat sich Friedrich Dürrenmatt nachhaltig von dem Marquis beeinflussen lassen. Zu dessen Wedekind-Rezeption vgl. exemplarisch: Mörchen, Helmut: »Das Leben ist eine Rutschbahn«: Der Baulöwe Jürgen Schneider und Frank Wedekinds Marquis von Keith. In: Borsò, Vittoria u.a. (Hgg.): Schriftgedächtnis ‒ Schriftkulturen. Stuttgart/Weimar 2002, S. 134 oder ausführlicher bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, Dürrenmatt habe Wedekind plagiiert: Marahrens, Gerwin: Frank Wedekinds Der Marquis von Keith und Friedrich Dürrenmatts Die Ehe des Herrn Mississipi. In: Momentum dramaticum. Festschrift for Eckhard Catholy. Ed. by Linda Dietrick and David G. John. Waterloo 1990, S. 493-519.
  4. Vgl. gegenseitige Schuldzuweisungen von Oliver Reese und Claus Peymann via Tagespresse: Schaper, Rüdiger: »Die Sitten in Berlin sind rauer als anderswo«, 03.05.2018, Url.: https://www.tagesspiegel.de/kultur/be-intendant-oliver-reese-die-sitten-in-berlin-sind-rauer-als-anderswo/21236416.html und Peymann, Claus: »Oliver Reese, suchen Sie das Herz des Berliner Ensembles«, 10.05.2018, Url.: https://www.tagesspiegel.de/kultur/replik-von-claus-peymann-oliver-reese-suchen-sie-das-herz-des-berliner-ensembles/21257562.html, letzter Aufruf: 23.05.2018.
  5. Vgl. Kümmel, Peter: Das Gespenstertheater, 18.04.2018, Url: https://www.zeit.de/2018/17/volksbuehne-berlin-chris-dercon-entlassung-kulturpolitik/komplettansicht, letzter Aufruf: 23.05.2018.
  6. Vgl. Kümmel, Peter/Müller, Daniel: Es geht sich eh aus, 28.02.2018, Url: https://www.zeit.de/2018/10/wiener-burgtheater-oesterreich-finanzen-skandal/komplettansicht, letzter Aufruf: 23.05.2018.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 6. Juni 2018
 Kategorie: Belletristik
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