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Untergang des Abendbrotlandes

Heute Abend feiert ein sehenswertes Stück in der Cheltenham Passage Premiere: Im Schloss – Deutschland für Anfänger erzählt von den Wirren des deutschen Behördensystems, das zuweilen kriegsgebietsartigen Zuständen ähnelt. Gespielt wird das kafkaeske Szenario von jungen SyrerInnen, KurdInnen, AfghanInnen, Roma, EritreerInnen, SomalierInnen und Deutschen, allesamt gut bekannt mit den Hürden, die das gelobte Deutschland für Migranten bereithält. Annie Rutherford hat die Proben begleitet.

Von Annie Rutherford

»Ich wurde einmal gefragt, ob ich mit meinem Kopftuch dusche,« erzählt Rahaf Jalbout. Die 21-Jährige hat sich wie viele junge Frauen angezogen: Jeans, ein langärmliges T-Shirt – und ein weißes Kopftuch. »Ich habe gesagt, ‚Ja‘.« Die Gruppe lacht, und Rahaf muss erstmal warten, bevor sie weiter reden kann. »Ich habe gesagt ‚Ja, ich darf nicht anders.‘ Und die Frau hat gesagt, ‚Echt? Hast du eigentlich Haare?‘ Und ich sagte, ‚Nein, ich gehe regelmäßig zum Friseur und lass sie alle abschneiden.‘«. Wir lachen wieder los, und auch bei Rahaf, die ihre Geschichte mit dem Timing und der Trockenheit einer geübten Komikerin erzählt, zuckt eine Mundecke. »Oh, das muss ich mir aufschreiben,« sagt Luise Rist, Schriftstellerin und Regisseurin beim freien Theater boat people projekt. »Das könnte mit ins Stück!« Sie senkt die Stimme, »Sie duscht mit der Burka! Mit der Burka unter der Dusche!« Das Kichern geht wieder los, und diesmal lacht Rahaf mit.

Das Stück

Das Schloss – Deutschland für Anfänger
Premiere: 29. Mai 2015
Weitere Vorstellung: 30. Mai 2015
jeweils um 20 Uhr in der Cheltenham Passage
Inszenierung: Luise Rist
Es spielen: Abdiwahad Mohammed Abdi, Kamal Ali, Mulor Bahta, Konstantin Gast, Rouaa und Rahaf Jalbout, Tabea Müller, Dawit Teklehannes, Anita Osmani, Goitom Kahsu, Mnase Myllion, Ali Rezai, Reshad Sultani und Wassiullah Salarzai.

 

boat people projekt

Unter diesem Label werden seit 2009 Theaterstücke mit einem gemischten Ensemble inszeniert, zu dem Flüchtlinge und Kunstschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Musik und Tanz gehören. Der Name boat people projekt (bpp) steht programmatisch für die Arbeit des Teams. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Flucht und Flüchtenden steht im Mittelpunkt der Theaterproduktionen. Die Stücke sind politisch, weil sie konkrete Ereignisse und Geschichten von Flüchtenden erzählen, sie sind poetisch, weil das dokumentarische Material zu einer Fiktion verdichtet wird.

 
 
Wir sitzen in einem leeren Supermarkt in Göttingen. Hier probt das boat people projekt, das seit seiner Gründung 2009 immer wieder mit Flüchtlingen zusammenarbeitet. Seit einem Jahr hat das Theater auch eine Jugendgruppe, zu der Geflüchtete aus Eritrea, Somalia, Kosovo, Afghanistan, Irak, und, wie Rahaf, aus Syrien, gehören. Fast alle von ihnen sind hierher geflüchtet.

Als Luise Rist im Frühjahr 2014 eine Produktion mit jugendlichen Flüchtlingen plante, hatte sie mit fünf oder sechs TeilnehrmerInnen gerechnet, aber ihre kleine Gruppe ist wöchentlich größer geworden. »Letztes Jahr sind unglaublich viele Menschen geflüchtet, viele sind in Göttingen neu angekommen, vor allem aus Syrien. Mir war klar, das Prinzip muss sein: Ich mache die Tür nie zu. Auch wenn es manchmal schwer ist, für alle. Es war manchmal auch sehr anstrengend. Jedes Mal dachte ich, wie mache ich das überhaupt? Ist das überhaupt richtig?«.

Das Projekt ist einen weiten Weg gegangen. »Am Anfang verstand fast keine der Teilnehmer_innen, was auf Deutsch gesprochen wurde,« erklärt Luise. »Die Besuche der Dolmetscher waren zwar hilfreich, aber das Chaos wurde auch verstärkt, weil aus vielen Sprachen gleichzeitig übersetzt wurde.« Dazu bringt jede und jeder ein unterschiedliches Verständnis von Theater mit. Bei einer frühen Probe der Gruppe sehe ich zu, wie Luise versucht, den Jugendlichen klarzumachen, dass der Raum in Bühne und Publikum geteilt wird.

»Ihr steht auf der Bühne. Kennt ihr das Wort?« Das Wort »Bühne« wird nach und nach ins Arabische, Persische, Tigrinische übersetzt, als ob die Jugendlichen »Stille Post« spielen würden.

Es steht auch die Frage im Raum, wie man Wörter und Ausdrücke für etwas finden kann, was so viele sprachlos werden lässt. Kamal, ein 18-jähriger Kurde aus Syrien, erzählt, »Es gibt viele Sachen, über die ich nicht rede. Ich kann nicht.«

Ensemblemitglied Kamal Ali

Rahaf und Kamal können in jedem Falle für sich sagen, dass sie am Liebsten ein politisches Stück spielen wollen. »Ich will meine Botschaft übers Projekt schicken,« erzählt Rahaf. »Ich habe Freunde und Verwandte, die in Syrien sind. Ich will, dass alle von ihren Schmerzen wissen. Ich will auch zeigen, dass nicht alle Flüchtlinge hierhin kommen, weil sie das wollen.«
Luise klinkt sich ein, »Ich glaube fest daran, dass man über die Kunst politische Botschaften senden kann und aber auch Menschen im Herzen berühren kann. Man kann sogar dabei ein bisschen heilen.« Es bleibt aber eine schmale Gratwanderung: Wie können wir diesen Jugendlichen eine Botschaft überreichen, ohne von ihren Geschichten wieder eingefangen zu werden?

Bei Im Schloss – Deutschland für Anfänger, das zweite Stück der Gruppe, liegt die Lösung vor allem in einem leicht veränderten Blickwinkel: Es erzählt nicht mehr vom Verlassen der Heimat wie Nach dem Frühling, sondern von der Ankunft in Deutschland. Den Kern des Stücks bildet die Sehnsucht einer jungen Syrerin nach ihrer Heimat, wie Alice im Wunderland läuft sie zunächst durch eine deutsche Behördenlandschaft, die mal skurril, mal gefährlich klingt. »Dass Geflüchtete deutsche Beamte spielen, und dabei Sätze sprechen, die PEGIDA-Parolen theatral ausstellen, hat einen sehr speziellen Humor,« lacht Luise. Überhaupt: Beim Proben wird viel gelacht.

Es ist April. Fünf Monate sind vergangen, seitdem ich zugesehen habe, wie Luise versuchte, das Konzept der Bühne zu erklären. Die Jungs in der Gruppe sind gewachsen. Ein paar erkenne ich kaum wieder. Im improvisierten Bühnenraum sitzen zwölf Jugendliche unterschiedlicher Herkunft. Sie sitzen kerzengerade und tippen als Gruppe, im Takt, einen Text in die Luft. Sie stellen uns einen Ort vor, den jeder von ihnen kennt: Die Ausländerbehörde. Vorne steht eine junge Frau mit Kopftuch. In der Hand hält sie einen Splitter der Tür vom zerstörten Haus ihrer Familie in Damaskus. Die Beamten schauen sie mit kaum verstecker Abneigung an. Die Gerüchte, die sie über die junge Frau austauschen, werden immer lächerlicher. Sie spricht Arabisch beim Abendessen. Sie isst kein Schwarzbrot. Sie versteckt das Schwarzbrot unter einer imaginären Burka.
»Das ist der Untergang des Abendbrotlandes,« stellt ein Beamter fest. Der Ausdruck wird wiederholt. »Das ist der Untergang des Abendbrotlandes.«



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 29. Mai 2015
 Ralph Hormes (Gruppenfoto), Luise Rist (Porträt)
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