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Von der Versuchung der Masse

Die Premiere von Eugène Ionescos Die Nashörner am 28.4. im Deutschen Theater Göttingen begeistert die ZuschauerInnen. Selbstreferenzielle Einschübe und eine Verlagerung des Geschehens nach Göttingen aktualisieren das Drama auf beunruhigende Weise. Simon Gottwald hat es sich angesehen.

Von Simon Gottwald

Da zerfällt die Gesellschaft immer weiter und nun laufen auch noch fremde Nashörner über die Straßen und zertrampeln unsere Katzen. Das geht eindeutig zu weit, befinden die Figuren der Nashörner-Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen. Aber statt etwas zu unternehmen, schließen immer mehr von ihnen sich den Nashörnern an und streifen ihre menschliche Hülle ab. Am Ende bleibt nur der Außenseiter Behringer (wieder einmal sehr ausdrucksstark: Marco Matthes), der nicht weiß, wie er sich der grauen Masse überhaupt verständlich machen soll. Wäre es vielleicht doch klüger gewesen, das menschliche Dasein aufzugeben?

Eugène Ionescos Die Nashörner ist als Parabel auf Heerdendenken und Mitläufertum eines der zugänglicheren Stücke des Absurden Theaters, das seine Blütezeit von den 1960ern bis in die 1980er erlebte. Widersinnige und unwahrscheinliche Geschehnisse auf der Bühne zeichnen diese Art des Theaters aus, zu dessen Vertretern neben Ionesco Schriftsteller wie Fernando Arrabal, Samuel Beckett und Wolfgang Hildesheimer zählten. Für Hildesheimer, der sich mit dem Absurden Theater auch theoretisch auseinandersetzte, war dessen entscheidendes Merkmal, die Absurdität des Lebens in absurdes Geschehen auf der Bühne zu sublimieren.

Am Deutschen Theater wird an diesem Abend der Irrsinn des aktuellen politischen Klimas zum Thema, dünn verhüllt durch die Allegorie der Nashornwerdung. Da sitzen Behringer und Hans (wunderbar blasiert gespielt von Sebastian Grünewald) eines schönen Sonntagmorgens vor dem Deutschen Theater Göttingen, dessen Front auf der Bühne bis ins Details dem Glaskasten des Foyers nachempfunden ist, und streiten über Behringers etwas zu starke Vorliebe für den Alkohol, als auf einmal ein Nashorn durch das Off trampelt. Für kurze Zeit ist der Streit vergessen, die Figuren blicken in den Saal und mögen kaum glauben, dass vor ihren Augen wirklich ein Nashorn herumläuft. Der ungläubige Blick mitten ins Publikum lässt keinen Zweifel: Wir alle sind Nashorn oder tragen zumindest das Potenzial in uns, eines zu werden.

Christoph Türkay, Marco Matthes, Sebastian Grünewald, Hedda-Lotte Böckmann, Paul Wenning, Florian Eppinger, Lutz Gebhardt, Gaby Dey

Die Volte der Regie, den Terror der durch die Stadt marodierenden Nashörner nicht nur auf der Bühne stattfinden zu lassen, unterstreicht diesen menschlichen Hang zum Nashornsein: Die Szene wechselt, man sieht den SchauspielerInnen dabei zu, wie sie sich auf die Inszenierung von Eugène Ionescos Die Nashörner vorbereiten und dabei darüber diskutieren, ob ein Nashorn in Göttingen überhaupt auftauchen kann. Bald werden die Probenarbeiten von einem auf den Gängen des Theaters wütenden Nashorn gestört, das sich als der frühere Kollege Ochs herausstellt. Behringers Kollege Stech hetzt durch die Sitzreihen, um die Türen zu überprüfen, gegen die heftig geschlagen wird. Draußen rast wirklich ein Nashorn über die Gänge. Aber wenigstens muss das Theater endlich mal renoviert werden, wenn wirklich ein Riesentier auf der Unterbühne tobt. Vor der Welt kann man sich im Theater eben nicht verstecken. Ein abfallender Schnurrbart und ein verschwörerischer Blick gen Publikum, ein Vergessen des Textes und die viel zu laute Hilfe der Souffleuse, die während der Aufführung umbauenden Bühnenarbeiter und die das Stück eröffnende Frage Behringers, ob er überhaupt die aktuelle Streichfassung vor sich liegen habe – das Publikum wird regelmäßig daran erinnert, wo es sich gerade befindet. Zugleich erschöpft die Inszenierung sich nicht in Spielen mit der vierten Wand: In einer der stärksten Szenen entscheidet sich Hans trotz der verzweifelten Einwände seines Freundes Behringer, sich den Nashörnern anzuschließen und ihr »Parteigänger« zu werden. Zu dumpf stampfender Musik geht Hans neben einem Nashorn (eine beeindruckende Kostüm-Arbeit von Johanna Geerkens) auf die ZuschauerInnen zu, bevor der Vorhang, in diesem Fall eine Rollwand aus Wellblech, zur Pause fällt.

Immer mehr ProtagonistInnen, selbst die scheinbar vernünftigen, werden während der zweiten Hälfte des Stückes zu Nashörnern, und bald bleiben nur noch Behringer und sein Schwarm Daisy übrig, die eine gesamte Ehe in wenigen Momenten durchleben: Wenn die Nashörner die Welt beherrschen, muss man das beste aus der Zeit machen, die einem bleibt. Doch auch Daisy verfällt dem Gruppenzwang. Und damit auch wirklich Jede/r versteht, dass es eben nicht um Nashörner, sondern um bestimmte politische Gruppierungen geht, wird Daisy hier, direkt vor ihrem Entschluss, sich den Nashörnern anzuschließen, die Möglichkeit gegeben, von einem idealen deutschen Land zu schwärmen, in dem man beim Einkaufen kein »Polnisch und kein Jiddisch« mehr hören muss, in dem deutsche Herzen nach dem Tod zu deutschem Boden werden, aus dem deutsche Reben sich einer deutschen Sonne entgegenstrecken – all das begleitet von träumerischer Musik.

So bleibt am Ende eine Frage: Haben nicht alle, deren Engagement gegen bedrohliche Bewegungen sich im Theaterbesuch erschöpft, die Verwandlung zum Nashorn bereits begonnen?



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 11. Mai 2018
 Fotos: © Thomas Aurin
Auf dem Titelbild: Sebastian Grünewald, Marco Matthes
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