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Literaturtourismus
Von Petrarca zu Potter

Ob auf den Spuren Goethes oder in den Fußstapfen von J.R.R. Tolkiens Gefährten: Literarische Welten und ihre Produzenten haben eine besondere Anziehungskraft auf ihre Rezipienten. Der Literaturtourismus schlägt eine Brücke von der realen Welt in die der Literatur, welche sowohl früher als auch heute gerne beschritten wird.

Von Lena Ozanik

Bereits in der Frühen Neuzeit, genauer um 1374 nach dem Tod des italienischen Dichters Francesco Petrarca, war der literarische Tourismus bekannt und beliebt. Damals wurde das Haus des Schriftstellers zu einer touristischen Attraktion, welches junge Adlige auf literarischen Pilgerreisen besuchten. Die Reisenden wollten die Atmosphäre und imaginären Welten der Gedichte und Geschichten nachempfinden und suchten nach Symbolen und anderen Quellen der Inspiration. Außerdem wurden auch schon damals literarische Spaziergänge angeboten, welche Besucher an besondere Orte führten, die Schauplatz oder Entstehungsort einer Geschichte waren.1

Literaturtourismus heute

Der literarische Tourismus erfreut sich heute immer größerer Beliebtheit und hat sich teilweise von seinen ursprünglichen Formen gelöst, um ein breitgefächertes Spektrum anzubieten. Zahlreiche Reiseveranstalter haben sich auf sogenannte »Literatouren« spezialisiert, welche Leser aller Altersklassen ansprechen sollen. Interessenten werden in diesem Rahmen nicht nur Besuche von literarischen Gedenkstätten, Museen oder Literatengräbern geboten, sondern sogar mehrtägige Reisen. Literaturreisen wie »Schottland auf den Spuren von Harry Potter« per Zug, Bahn und Schiff lassen Touristen auf den Spuren der Autoren oder literarischen Helden wandeln. Auch interaktive Themenparks zur Visualisierung von phantastischer Literatur wie Harry Potter ziehen immer mehr Besucher in ihren Bann.

»Literatouren«

Zahlreiche Reiseveranstalter bieten dem treuen Harry Potter-Fan einen Einblick in die zauberhafte Welt der Bestseller. Der Internetanbieter Thoba Reisen organisiert siebentägige Schottland-Rundreisen unter dem Motto »Auf den Spuren von Harry Potter«. Den Reisenden werden dabei unter anderem eine Fahrt mit dem Jacobite Steam Train, dem Hogwart Express aus dem Roman, geboten oder eine Wanderung zu den Stealls Wasserfällen, welche in der Verfilmung vorkommen. Der Reiseveranstalter CS Travel GmbH bietet ebenfalls Rundreisen zu den Schauplätzen der Harry Potter-Romane und Verfilmungen an. Seine Highlights sind der Besuch des typisch englischen Vorstadthauses der Dursleys im Private Drive und der historischen Mensa des Christ Church College, welches als Speisezimmer für Hogwarts diente.

Der Veranstalter British Tours bietet Harry Potter Tagesausflüge nach London, Oxford und Gloucester. Hier werden Potter Fans zum Londoner King’s Cross Bahnhof geführt, um das Gleis 9 ¾ zu bestaunen, welches Harry Potter und seine Freunde in die Zauberwelt entschwinden lässt. Außerdem werden die Oxford University und die Kathedrale von Gloucester besichtigt, in denen viele Hogwarts-Schulszenen gedreht wurden.

Doch nicht nur Reisen zu den Handlungsplätzen der Harry Potter-Romane ziehen Leser magisch an, sondern auch das Grab Harry Potters in der israelischen Kleinstadt Ramle. Der britische Soldat mit dem heute unverwechselbaren Namen Harry Potter kam 1939 ums Leben und wurde auf einem kleinen Militärfriedhof beigesetzt. Seit Erscheinen des ersten Harry Potter-Romans besuchen jährlich tausende Touristen das Grab des Namensvetters, der natürlich keinerlei Verbindung zu dem Helden aus der Literatur aufweist. Das Pilgern zu einem willkürlichen Grabstein verdeutlicht die auf Sensation hin ausgelegte Wendung des Literaturtourismus. Ein Bezug zur eigentlichen Literatur ist hier nicht mehr zu finden und der Unterhaltungsfaktor mehr als fragwürdig.

Der Wunsch nach einer realen Reise in die literarische Welt

Die Arbeitsgemeinschaft Potterreisen organisiert seit 2006 ein sechstägiges Harry Potter- Ferien-Camp, in dem Kinder und Jugendliche von acht bis siebzehn Jahren die Hogwarts Schule für Zauberei und Hexerei besuchen können. Die Schüler werden durch den sprechenden Hut einem der vier Häuser zugeordnet und in acht verschiedenen Fächern unterrichtet. Außerdem bekommen sie Quidditch-Training und zum Finale wird das Trimagische Turnier ausgetragen. Die Fans wollen Harry Potter nicht nur lesen und sich vorstellen, sondern mit dabei sein und mit allen Sinnen erleben.

Im Sommer 2010 eröffnete der erste Harry Potter-Themenpark in den Universal Studios Orlando, Florida. Mit Hilfe der Autorin J.K. Rowling und dem Produzenten Warner Brothers wurde der Freizeitpark originalgetreu nach den Kulissen der Verfilmung erbaut. Auf fünf Hektar können Besucher das Schloss Hogwarts sowie das magische Dorf Hogsmeade und berühmte Geschäfte wie Olivander’s oder Honeydukes, das Wirtshaus drei Besen und den Hogwart Express besuchen. Drei Fahrgeschäfte, Liveauftritte und originale Speisen und Getränke wie Butterbier oder Bertie Botts Bohnen aller Geschmacksrichtungen geben dem Besucher das Gefühl in die Welt Harry Potters eintauchen zu können. Das bei der Lektüre Imaginierte ist nun fassbar und mit allen Sinnen zu erleben.

Zum Projekt

Mehr als zwischen zwei Buchdeckel passt? In ihrer Artikel-Serie ergründet Lena Ozanik, wie sich fiktive Geschichten ihren Weg in die Realität bahnen. Dem Phänomen Literaturtourismus begegnet sie mit historischer Weitsicht, als teilnehmende Beobachterin und als »Literatouren-Expertin« vor Ort in Göttingen

 
 
Im Dezember 2011 wurde bekannt gegeben, dass demnächst ein zweiter Harry Potter-Themenpark in den Universal Studios Hollywood in Kalifornien gebaut und der alte Park in Florida vergrößert werden soll. Dies attestiert die enorme Nachfrage an der phantastischen Welt Harry Potters teilzuhaben und Literatur hautnah mitzuerleben. Es stellt sich aber auch die kritische Frage, wieviel Literatur denn eigentlich noch im Literaturtourismus steckt? Die Romane, der Film sowie die reale Welt als Schauplatz scheinen zu einem einzigen Kommerz-Objekt zusammen geschmolzen zu sein. Der starke Eingriff in die Phantasie-Welt des Lesers beeinflusst und manifestiert die Vorstellungen von Orten und Personen. Diese Bevormundung der Imagination des Lesers könnte hingegen aber auch die Möglichkeit bieten, Lesemuffel für die Lektüre zu begeistern.

Literaturtourismus im Wandel der Zeit

Die literarische Spurensuche hat sich im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt und ist komplexer geworden. Aus anfänglichen Pilgerreisen und Spaziergängen der Adligen auf ihren Bildungsreisen sind umfangreiche »Literatouren« geworden, welche nicht selten aus mehrtägigen Zug-, Schiff- und Flugreisen bestehen. Sie dienen heute zum Teil weniger der Bildung als der Unterhaltung der Reisenden. J.K. Rowling hat mit ihrem Fantasy-Helden Harry Potter eine Romanfigur erfunden, welche weltweit auf sehr großes Interesse stößt. Viele Leserinnen und Leser der Harry Potter-Romane nutzen neben der Literatur auch andere Formen des Entertainments, um der phantastischen Zauberwelt Harrys und seiner Freunde näher zu kommen. Durch den literarischen Tourismus, welcher Harry Potter Fans durch Ausflüge und Reisen auf die Spuren ihres Helden führt, ist es möglich die magische Welt J.K. Rowlings mitzuerleben.

Literaturtourismus ist dann möglich, wenn Handlungsorte von Geschichten, Schauplätze von Verfilmungen oder Entstehungsorte von Texten großen Anklang finden. Das Phänomen Harry Potter treibt vor allem die Kommerzialisierung des literarischen Tourismus an. Die phantastische, sehr detailreiche und manchmal kuriose Welt der Harry Potter-Romane scheint viele Menschen so sehr zu faszinieren, dass sie die Atmosphäre aus der Literatur so real wie möglich werden lassen wollen. Glücklicherweise ist jedoch nicht von einem kompletten Wandel der Bildungs- zu Erlebnisreisen zu sprechen.

Die klassischen Bildungsreisen in der Literatur existieren auch noch im Zeitalter des Harry Potter, allerdings scheinen die kommerziellen Reisen derzeit besonders bei Familien und Jugendlichen beliebt zu sein. Gerade in der heutigen medial überfrachteten Zeit, welche von Film, Fernsehen, Internet, Smartphones und Action Parks bestimmt wird, erscheint das Lesen als entschleunigender Prozess sehr besinnlich. Um Literatur zu erleben, scheint es mir daher das Beste und Authentischste, einfach selber zwischen zwei Papierseiten in die Welt der Buchstaben, Geschichten und Vorstellungen einzutauchen.

  1. Einen Überblick bietet bespielsweise Bodo Plachta: Literaturbetrieb. München 2008, S. 144.


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 Veröffentlicht am 30. August 2012
 Kategorie: Misc.
 Bild mit freundlicher Genehmigung von Lena Ozanik
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