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Wer im Grimm-Haus sitzt

Nicht allein zu wissenschaftlicher Literatur, sondern auch  zu Liebesromanen neigten Jakob und Wilhelm Grimm: Im Literarischen Zentrum trug Steffen Martus aus seiner Grimm-Biographie vor. Er sprach von Brüderzwist und Brüderliebe, von Kriegswirren, Göttingen, der Erfindung der Germanistik – und Wäschefrust.

Von Sjoukje Dabisch

Um Brüderlichkeit ging es an diesem Abend, der die Herren Grimm von einer vermeintlichen Staubschicht und verengenden Fokussierung auf die bekannte Märchensammlung befreien sollte. Erklärungsbedürftig schien die Wahl des Forschungsthemas im einleitenden Gespräch zwischen Steffen Martus, dem Verfasser der Biographie, und Gerhard Lauer, dem Moderator des Gesprächs. Der Hinweis auf den 1000-DM-Schein, der schon seinerzeit weitaus seltener war als die Banknoten mit Portraits anderer Deutscher, leitete über zu den Verlegerinteressen. Doch nichts beantwortete die Relevanz-Frage so deutlich wie der kurze Hinweis, vor den Grimms habe es keine Germanistik gegeben. Heute noch tragen Seminargebäude ihren Namen.

Persönliche Finanzkrise

Wohl wenigen im Publikum dürfte bekannt gewesen sein, dass die Grimms sich nach dem Tod des Vaters wirtschaftlich sorgen mussten. Jakob, Wilhelm und vier weitere Geschwister waren noch Kinder und das familiäre Auskommen ungeklärt. Als älteste Söhne sollten sie möglichst schnell auf eine juristische Beamtenlaufbahn vorbereitet werden, um das Auskommen der Familie zu sichern. Es kam anders: Anfang des 19. Jahrhunderts, während ihrer Studien, folgte Jakob Grimm seinem hochverehrten Lehrer Friedrich Carl von Savigny, der erstes philologisches Interesse weckte, als Hilfskraft nach Paris. Der junge Jakob konnte sich mit der Metropole nicht anfreunden, lediglich das Kulinarische stieß auf sein Interesse. Wilhelm, der Kränkliche, blieb unterdessen in Mitteldeutschland.

Allzumenschliches

Es ging weit weniger um Märchen in diesen Stunden, als man vielleicht hätte vermuten können. Die Lesung kreiste um Kriegswirren, Brüderstreit und Ideale der Französischen Revolution. Nebenbei ließ Martus uns wissen, sein Buch enthalte ein umfangreiches Göttingen-Kapitel. Auch wurde geklärt, dass es Männern zu damaligen Zeiten unmöglich war, ins Waschhaus zu gehen. Nebenbei gefragt: Haben Sie gewusst, dass die Brüder Grimm eine Schwester hatten? Als 15-jährige übernahm sie den Haushalt für ihre Brüder. Nach der Hochzeit der einzigen Schwester, fanden Jakob und Wilhelm sich ohne Haushälterin. Auch um dem als besonders störend empfundenen Zusammensuchen der Wäsche zu entgehen, heiratete Wilhelm. Schmunzeln bei den Zuhörern. Ob es eine glückliche Ehe war, blieb offen.

Und noch etwas zur Brüderlichkeit: Es ist allgemein bekannt, dass auch Brüder sich nicht immer hervorragend verstehen. Jakob und Wilhelm Grimm bildeten da keine Ausnahme. Sie zankten recht stark und schrieben einander missgünstige Briefe. Fast harmlos mutet hier noch ein Zitat aus einem Brief an Friedrich Christopf Dahlmann über die gemeinsame Arbeit am Deutschen Wörterbuch an:  „Fast alle Bücher sind an den Wänden meiner Stube  aufgestellt und Wilhelm hat die grösste Neigung, sie in seine Stube zu holen, wo er sie auf Tische legt, dass man sie schwer wieder findet.“

Anonymer Volksgeist

1812 veröffentlichten die Brüder Grimm ihre erste Märchensammlung, da waren sie gerade Mitte Zwanzig. Die Märchen fanden zunächst keinen sonderlich guten Absatz. Die Zielgruppe war nicht deutlich auszumachen. Der Inhalt, der vorgeblich einem „anonymen Volksgeist“ entstammte, schien unpassend für Kinder wie Erwachsene. Die Deutsche Grammatik wurde erstaunlicherweise euphorischer aufgenommen und, so Martus, gern als Bettlektüre konsumiert. Neben wissenschaftlicher Literatur tendierten Jakob und Wilhelm privat zu Liebesromanen. Der Vortragende gab an, sich die Brüder heutzutage gar als Rosamunde Pilcher-Leser vorstellen zu können. Auch in einer wissenschaftlichen Lesung ist Unterhaltsames von Zeit zu Zeit empfehlenswert.

Die Nachwirkung der Brüder Grimm reichte an diesem Abend bis ins Literarische Zentrum Göttingens. Damit hätten sie vermutlich nicht gerechnet. Auch der Kurfürst fragte sich während der Entstehung der Grimm’schen Werke zeitweise, was seine Bibliothekare die ganze Zeit trieben. In der Totenrede 1860 auf seinen Bruder erwähnte Jakob ihre unterschiedlichen Charaktere und wie Konflikte ihre Bindung gestärkt hätten. Der eine habe etwa Schiller, der andere Goethe bevorzugt – und doch haben beide gemeinsam zur Germanistik gefunden. Für Brüder-Grimm-Interessierte klang der Abend lohnend aus.



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 Veröffentlicht am 26. Juni 2010
 Bild von kajvin via flickr
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