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Zur Poetik des Störgeräuschs

Thomas Glavinics jüngst erschienener Roman Lisa bietet nicht nur einen analytisch auf den Zielpunkt hin entworfenen Plot, satirische Digression und einen beachtlichen Bestand an Begleitmotiven und Erzählfäden. Elisabeth Mayr liest Lisa und spürt einer postmodernen Ästhetik des Bösen nach.

Von Elisabeth Mayr

Alle wollen immer sicher gehen. Tom will sicher gehen, Hilgert will sicher gehen. Wir fragmentieren die Wirklichkeit, in der Hoffnung, sie als ganze zu entschlüsseln. Als würde die Wahrheit über die Kontingenz uns über die Kontingenz beruhigen. – Was ist der Preis für die Illusion von Kontrolle? Wollen wir die Wahrheit wissen? Warum die Gewissheit, dass in der Wahrheit das Ganze und in der Kenntnis der Wahrheit etwas Beruhigendes liegt? Und heißt das Gegengift: Der Witz, das Reden? Die große Einsamkeit in der so redseligen wie fragmentierten Virtualität überwinden? Mit der bloßen Hoffnung auf Gehör? Wie ist es also um die Möglichkeit einer Insel und um die Andersrede vom Unsagbaren im Raum des Simulacre bestellt?

Urangst und Glosse

Diese Fragen, dazu ein schmaler, analytisch auf den Zielpunkt hin entworfener Plot, atmosphärische Unschärfe und satirische Digression, ein nicht restlos auflösbarer Bestand an Begleitmotiven und Erzählfäden und – … – Aposiopesen als Momente des Schweigens, der Atempause, des Bruchs, des Schreckens. All das ist Thomas Glavinics neuer Roman Lisa. Zugegeben, das verheißt kein leichtes Vergnügen – wäre da nicht der andere Pol der vertikalen Spannung in diesem Roman, wären da neben den Tiefen des apokalyptischen Klangraums, in dem Urängste sich artikulieren, nicht auch die misanthropisch geistreichen Höhen, die Unanfechtbarkeit des treffsicheren Humors und der Glaube an die apotropäische Kraft der Glosse und des lebendigen Worts.

Von der Hintergehbarkeit der DNA

Und nun zum Plot: Eine Serienmörderin geht um in Europa. Ihre DNA ist entschlüsselt, und doch sind alle Fragen offen. Das Ergebnis der DNA-Spurenlese nimmt sich aus wie ein postmodernes Kaleidoskop in Pitaval-Manier, das vom Kleinstvergehen in der Provinz bis zum Kapitalverbrechen in der Metropole ein beklemmend breites wie opakes Spektrum willkürlicher krimineller Energie streut. Doch von der Täterin nichts als Referenzen ohne Referenz, darunter auch ihr provisorischer Name, der überdeutlich Harmlosigkeit und Banalität der so Bezeichneten und sonst nicht Greifbaren zu beschwören hofft: Lisa. Der Roman, der den Namen der Täterin zum Titel hat, transzendiert so in beunruhigender Weise die Genregrenzen zwischen Whodunit und Howcatchem.

Buch-Info


Thomas Glavinic
Lisa
München: Hanser 2011
208 Seiten, 17,90 €

 
 
Begründete Angst treibt auch eines ihrer glimpflicheren Opfer um: Tom, in dessen Wohnung Lisas DNA nach einem Einbruch sichergestellt wurde, ist mit Hilgert, dem Kommissar im Alleingang mit Zügen des hardboiled detective, inzwischen komplizisch befreundet und mag sich wie dieser nicht zufrieden geben mit der sedierenden Wahrheit einer Öffentlichkeit in Erklärungsnot: Lisa sei ein Phantom, die Wahrheit der DNA so hintergehbar, wie die Laborproben verunreinigt. So heißt es prosaisch in der Presse. Beide gehen nicht den Weg der anderen und bleiben der paradoxen Logik der Indizien auf der Spur: der eine ist verschollen, der andere spricht von der Scholle des Einzelnen zu uns und weiht uns in das Ausmaß des Rätsels und seiner grotesken Grausamkeit ein. »Nein, meinen richtigen Namen verrate ich euch nicht, ich bin ja nicht ganz blöd, nennt mich Tom. Tom, das ist eine Idee von mir. Ich bin eine Idee von Tom.« Der Ich-Erzähler, der uns seine Identität also in Form einer Möbiusschleife gibt, hat sich mit seinem Sohn in einer Berghütte verschanzt und schlägt sich die Nächte damit um die Ohren, unter Einfluss von Kokain, Whisky und Lebensangst über einen Livestream-Channel eine ungewisse Hörerschaft ins Vertrauen zu ziehen:

Hallo übrigens an alle, die heute zum ersten Mal zuhören. Ich arbeite hier mit ziemlich elender Software, ich sehe nicht einmal, wie viele Hörer ich habe. […] Mir ging es immer darum, meinen Hörer zu finden, den, der mir zuhört, weil er versteht, was ich mache.

Unterbrochen von überdrehten, idiosynkratischen Exkursen über Gott und die Welt, von eingespielten, für ihn stimmungsadäquaten, für uns Stimmung produzierenden Songs und anderen mehr oder weniger unfreiwilligen Pausen, evoziert Tom die beglaubigende Atmosphäre für sein gleichermaßen fesselndes wie flüchtiges Zeugnis.

Livestream of consciousness

Es sind durchaus auch heitere Fragmente einer Sprache der Angst, die uns als störgeräuschanfälliger und drogeninduzierter livestream of consciousness erreichen. Die unterhaltsamen Sequenzen defokalisieren von der Wiedergabe des dämonischen Curriculums und folgen dabei einem zugleich aufspürend und aufschiebend assoziativen Rhythmus. Im Kolumnenton und zu Kolumnenthemen wird pointiert gefaselt und gefrotzelt, wird eingeräumt, angeklagt und der Faden verloren. Urbaner Zynismus aus dem Adlerhorst trifft auf gut österreichisch dahergrantelnde Larmoyanz – und einen roten Faden, der diese Form der »Ablenkungsmanöver von der Wirklichkeit« zugleich in ihr Gegenteil umschlagen lässt und so in Balance bringt, gibt es doch: Es ist die aufrichtig empörte diagnostische Sensibilität für die Sollbruchstellen unserer Konstruktion von Wirklichkeit, die die polemischen Sticheleien orchestriert und sie vor dem Vorwurf der Spiegelfechterei bewahrt, und es ist die bitterböse, dank Alkohol und Drogen ungefiltert und flapsig daherkommende Galle, die diese Sensibilität erdet und ihr so aufs beste sekundiert.

In munterer Unverfrorenheit wird der Finger in die Wunden der Leistungs- und Konsumgesellschaft und ihrer Verdrängungs- und Kompensationsmechanismen gelegt, werden Scheingewissheiten und hohle Konventionen entlarvt, wird mit gut Kraus’schem Feingefühl für Sprache die verlogene Verlegenheit einer in Wirklichkeit nahezu unpolitischen, aber dank Sprachregelung politisch korrekten Gesellschaft dem Lachen der Hörer preisgegeben. Das intrikate Verhältnis zwischen Sagen und Bedeuten, zwischen Sagen und Sein gebiert aber – neben diskursiven Wucherungen wie der der political correctness, die, ironisch befragt und gewendet, beinahe von selbst in sich zusammenfällt – eben auch Monstren von allegorischer Größe, Monstren wie Lisa: Es ist derselbe Riss zwischen Sagen und Bedeuten, in dem sich das untrüglichste Zeichen sui generis, die menschliche DNA, als unzuverlässig und der Versuch der Zusammenführung von Sagen und Bedeuten in der Suchbewegung der Analyse als aporetisch erweisen müssen.

Die Störgeräusche des Livestream korrespondieren mit der Hintergehbarkeit der DNA, denn nicht nur der Leser hat die Gewissheit, dass da mehr sein muss als der Ausschnitt, den wir haben, aber da, wo dieses Mehr und damit die Geschichte in ihrer unverstellten Ganzheit sein müsste, sind Unbestimmtheit und Unschärfe, ist weißes Rauschen. Der Umgang mit diesem weißen Rauschen ist das Problem des Lesers, so wie es im Roman das Hilgerts und Toms ist. Nicht zuletzt aus dieser Verdoppelung des Inhalts auf diegetischer Ebene bezieht der Roman seine verstörende Kraft.

Das den ganzen Roman über durchgehaltene episodische Verfahren steht also nicht nur im Dienst des genretypischen analytischen Spannungsaufbaus: Es sequenziert den metaphysischen Ernst des Unsagbaren in bekömmlichen Portionen, umgeht leichtfüßig das Pathetische und plausibilisiert dadurch die psychologisch motivierte Erzählstrategie aufs Überzeugendste, liegt doch in der komischen Wendung der letzte und beste Fluchtpunkt des verzweifelten Ironikers. Noch tief in die einzelne Splatterszene hinein reicht diese Strategie des durchheiternden Zwischentons, etwa wenn von einem erzählt wird, der sich im bacchantischen Taumel seinen eigenen Fuß abhackt, um ihn schließlich in aufgeräumter Stimmung mit Knoblauch und Öl in der Pfanne zu schwenken.

Solche scheinbaren Ablenkungsmanöver von der Wirklichkeit bilden bei gleichzeitiger Beschwörung drastischer Bilder aus dem Abgrund, dem eigenen inneren wie dem allgemeinmenschlichen, die ambivalente Kulisse, vor der sich bekenntnishaft die poetologische Disposition des Zu-uns-Sprechenden abzeichnet, der von sich sagt:

Es ist, als ob mir nichts passieren könnte, solange ich hier sitze und rede, rede, rede. Alles ist gut, solange ich durch dieses Gerät mit einem kleinen Ausschnitt der Welt kommuniziere. Zu dem du, mein Zuhörer, gehörst.

An dieser Stelle kommt die Koketterie mit dem Heroischen, die sich selbst nicht ganz geheuer ist und sein will, zusammen mit dem sanften Kitsch der Zueignung an den Leser, und natürlich bietet sich ebendiese dann doch leicht pathetische Synchronisierung der gezeichneten Ausgezeichneten dazu an, mit einem gerüttelt Maß an Störgeräusch unterlegt zu werden. Im Störgeräusch entfaltet sich die Kraft der Leerstelle, und der sich selbst zugesprochene Mut zeigt offen die Brüchigkeit seiner Faktur:

Ich rede also um mein Leben.

… funkt …

… verbissen, aber ich …
Hört ihr mich jetzt eigentlich? Ich kann nicht fassen, dass wir …

… gottverdammte Technik, das hat sein müssen. Scheißkabel. Wackelkontakte ziehen …

Der entscheidende Trost liegt, trotz Aufgabe eines noch immer ersehnten Absoluten als Erlösung vom Bösen durch Lösung des Rätsels, gerade in der relativen Wahrheit und trotzigen Bescheidenheit des Satzes: »Die Wirklichkeit ist nun mal das, was man aus ihr macht.«

Ungerecht und bekokst, und doch: so zuverlässig wie möglich

Sind Kritik und Ängste, sind die Worte eines massiv Bekoksten, Betrunkenen, Verzweifelten zuverlässig? Kann man einem Tester von PC-Spielen, Genre: Abenteuer, der auch als Autor zweier solcher Spiele verantwortlich zeichnet, trauen? Aber hat man denn wirklich die Wahl, wenn man vorerst muss, weil seine Stimme die einzige vernehmbare ist? Wie oft widerspricht er sich selbst, wie oft unterläuft ihm ein Bruch in der Logik des Gedankens, wenn er sich mit angestrengt kühlem Kopf seiner selbst und seiner gegenwärtigen Lage versichern will und sich, so scheint es, mehr für sich selbst als für den Hörer um die Rekonstruktion des Geschehenen bemüht? Und sich dabei unweigerlich in ein Netz von Selbstwidersprüchen verstrickt:

Hilgerts Verschwinden ist so eine Sache. Vielleicht steckt ja … Augenblick …
gar nichts dahinter, vielleicht bilde ich mir nur etwas ein, vielleicht bilden die sich alle nur etwas ein und haben sich getäuscht, die ganze Geschichte ist doch auch … Aber natürlich weiß ich, dass sie recht haben. […]
Ich bin sicher, wie ein Mensch einer Sache nur sicher sein kann. Alles, was Hilgert herausgefunden hat, stimmt. Wir haben es mit dem Schlimmsten zu tun, das…
Ein Scheiß ist das hier … Moment, Zigarette …

Das Quantum an Unzuverlässigkeit, das dem Erzähler anhaftet, nachdem man in Abzug gebracht hat, dass er es ist, der sich das Livestreamen als lebensrettende Maßnahme der Selbstvergewisserung verordnet hat, gerade um Verstand und Zurechnungsfähigkeit in der Ausnahmesituation zu behalten, macht die Anlage des Romans für den Leser allenfalls um einen Flügelschlag pikanter, ohne dass von dieser Voraussetzung die Erzählsituation als Ganze auf den Kopf zu stellen wäre. Dem Kampf gegen die mögliche eigene Unzuverlässigkeit dienen die wiederkehrenden Strukturen des Selbstwiderspruchs, des Selbstkommentars oder der Selbstkorrektur. Und diese Strukturen können – kaum gegen den Strich gelesen – ebensogut Indizien der Zuverlässigkeit in Form einer Selbst- und Realitätsüberprüfung sein.

Möbius-Schleife und Drogenabusus allein machen ihn nicht unzuverlässig. Ihn, der ritualisierten Ablenkungsmanövern von der Wirklichkeit, dem Paralleluniversum der Hooligans beispielsweise, feindselig gegenübersteht, und seine eigenen Ablenkungsmanöver zu einer Möglichkeit umschafft, der bedrohlichen Wirklichkeit seelisch gewachsen zu bleiben, um sie in ihren Rissen und Aporien überhaupt erst sichtbar und das heißt diskursiv zu machen. Die erste Funktion des Sich-selbst-auf-die-Schliche-Kommens ist die Überprüfung der eigenen Fähigkeit zur Intersubjektivität im dialogisch gedachten Monolog des Livestream, die zweite Funktion ist die des Phatischen und seines uralten Trosts, älter als Sheherazade, so alt wie die Geister, die es bannen soll.

Ihn, der von sich sagt: »Aber Versicherungsbetrug, das ist nichts für mich, ich kann nicht einmal am Sonntag die Zeitung stehlen. Nicht weil ich Angst habe, erwischt zu werden, sondern weil ich Betrug nicht leiden kann, ich hatte immer das Gefühl, diese Unehrlichkeit bekomme ich anderswo zurück.« Sein Bemühen um Zuverlässigkeit ist kenntlich, und es ist ein unverdächtiges, weil von einer karmischen Logik geleitetes Bemühen. Und außerdem: Böse Menschen kennen keine Lieder.

Das Unbewusste des Lesers als Echokammer der Störgeräusche:
Lies Lisa. Träum interessanter.

Warum träumt man interessanter, wenn man »Lisa« gelesen hat? Es dürfte auch mit den suggestiven Bildern zu tun haben. Zu einem Gutteil leisten detotalisierte Einheiten – ohne eindeutige Referenz oder mit einer Summe beliebiger Referenzen – ihren Beitrag. Da sind zum einen die Szenen von Fleischverzehr und Zubereitung menschlichen Fleisches, zum anderen die geheimen, sprachlosen Protagonisten des Romans: Mäuse, Spinnen, Schlangen, Käfer, Fliegen, Mücken, Fledermäuse.

Dazu gibt es Stellen wie diese: »Ich will plötzlich dauernd Worte mit Qual sagen. Qual…ifikation. Qual…men. Qual, der Wal.« Es handelt sich hier, so will es die Fiktion, um gesprochene Worte, und dennoch hat der Leser mit der Ambivalenz des doppelten Worts zu kämpfen, die es in der reinen Mündlichkeit nicht geben könnte. Über die différance der Schriftlichkeit schreibt sich der Autor augenscheinlich in den Text ein und gibt einen Wink durch die Homophonie hindurch: Tom also ein Wiedergänger von Jonas aus Die Arbeit der Nacht und aus Das Leben der Wünsche?

Indizien bleiben Indizien, so vielsagend sie und so geübt der hermeneutische Verstand des Lesers im Übrigen auch sein mögen, diese Tautologie mag die vom Paradoxen unantastbare Wahrheit des Romans sein. Denn was will man mit der Ahnung der Ähnlichkeit des Namens der Frau des Autors mit denen der beiden anderen Hauptfiguren: Lisa und Hilgert? Was meint die Wal-Allusion? Bleibt er, der auserwählte Einzelne, der sich einer Übermacht ausgeliefert sieht, die über ihn verfügt, ohne dass er ihr Wie, Warum und Was verstünde, verschont? Die Hütte und der Wal, Schutzräume und erwählte Orte? Warum ein Marienkäfer eintätowiert in seinen Unterleib? Das einzige nicht unheimliche Insekt im Text, ein Erlösungssymbol, ein Mariahilf, wo keines ausgesprochen werden darf, eine Fürbitte des Zufalls? Oder ist es bloß die Wiedergängerin des weiblichen Gegenübers von Jonas: Marie? Gilt also, dass, wer »die Qual, der Wal« hat, auch – Mene Menetekel – den Marienkäfer unterm Nabel trägt? Und warum – wie in fast jedem Roman von Glavinic – auch hier wieder bekleidete Tiere, wenn auch nur als Kalendermotiv? Und warum überhaupt so viele Kalender in der Hütte? Warum scheint die Zeit fünf Jahre zuvor stehen geblieben? Die bekleideten Tiere als geheime Signatur des Autors? Ein schlichtes Verkehrte-Welt-Symbol? Und wenn ja? Was heißt das nun genau?

Glavinic vermessen, aber wie?

Man könnte von Denis Johnson, seiner Suggestivkraft und seinen drogeninduzierten Wahrheitszeugen reden. Oder von der verstörenden Kraft des Magischen jenseits des magischen Realismus. Man könnte mit Freud kommen und damit, dass die Wiederkehr des Verdrängten das Unheimliche ist. Was ist das Unheimliche? Die Unsicherheit unserer Wahrnehmung, der vernunftbestimmten eingeschlossen. Die Unsicherheit der Existenz angesichts von Sicherheiten, die wir haben, und von Widersprüchen, die neben diesen Sicherheiten nicht sein dürften, wenn die Sicherheiten Sicherheiten bleiben sollen. Welle und Teilchen, Unschärfen aus dem Lehrbuch.

Man könnte Lisa als Allegorese des Verhältnisses von Fragment und Totalität im Zeitalter des Simulacre deuten und frohgemut Baudrillard zum postumen Recht verhelfen.

Oder man versucht es mit dem »Prinzip Hoffnung« und fällt das axiologische Urteil, Bloch zitierend: »Nur das Zerbrochene […] im großen Kunstwesen gibt das Material und die Form zu einer Chiffre des Eigentlichen.«

Oder man zieht Blanchot heran und das, was er vom fragmentarischen Schreiben in Reinform (für das die Forschung im Übrigen keine markanten Beispiele kennt) sagt: Es sei die »Zerstückelung dessen, was nie als Ganzes existiert hat (realiter oder idealiter) und nie existieren wird«.

Mit Peter-André Alts »Ästhetik des Bösen« wäre nach einer postmodernen Rückkehr der allegorischen Personifikation des Bösen zu fragen, eines Bösen, das in beunruhigender Weise beidem angehört: dem Metaphysischen und der reinen Immanenz – und das folglich auch dort nicht lokalisierbar ist, wo es die Literatur nach Leibniz verortet, im Innenraum der menschlichen Psyche, deren Tiefenstruktur anhand ihrer Spielarten ausgelotet werden kann, ohne auf metaphysisches Terrain zu geraten. Lisa scheint seelenlos, und obwohl das Böse nicht lokalisierbar ist und ein Verstehen des Warum zwecklos erscheint, ist es offensichtlich immer noch, durch alle Paradoxien hindurch, beschreibbar: Literatur allein, weiß Susan Neiman in Das Böse denken, bietet die Möglichkeit, solcherlei »Paradoxe zu formulieren, ohne in Absurdität zu verfallen«.

Vergleichen könnte man mit Houellebecqs Zerrbildern postmodern vereinzelter Existenz. Oder mit den getriebenen Figuren Thomas Pynchons, die von dem, wonach sie verzweifelt suchen, nicht mehr kennen als ein Zeichen, einen Namen, der über den Status der Chiffre letztlich nicht hinauskommt. Oder, sprachlich, mit Wolf Haas: »Und weil ich das über die Fußballfans gesagt habe, alles die reine Wahrheit.«

Ist der Satz von Haas oder von Glavinic? – Richtig, von Tom, den wir bereits gewohnt sind, Tom zu nennen.

Lesemüde Männer werden mit Glavinic wieder zu Lesern, weiß der Playboy. Und Germanistinnen und anderen professionellen Leserinnen gibt er die verloren geglaubte Unschuld und die damit verbundene Freude am Lesen zurück, weiß ich.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 9. März 2011
 Kategorie: Belletristik
 Foto von macronix via flickr.
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