Willkommen in der Postmoderne: Am DT Göttingen inszeniert das Performance-Kollektiv andcompany&Co. eine schrille, bunte und comichafte Dekonstruktion von Wolfgang Müllers Filmsatire Wir Wunderkinder und lädt zu einem Abend für Ohren, Augen und Kopf zugleich ein.
Von Helge Ernst
Der Film Wir Wunderkinder von 1958, basierend auf dem gleichnamigen satirischen Roman von Hugo Hartung, war seinerzeit eine nicht allzu ernste Auseinandersetzung mit der deutschen Vor- und Nachkriegszeit sowie der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In der Bühnenadaption Wunderkinder, uraufgeführt am 12. März im DT Göttingen, geht es knapp 50 Jahre später nicht mehr so sehr um die NS-Zeit, sondern vielmehr um das »Hier und Heute«. In ihm werden die Lebensgeschichten zweier sehr unterschiedlicher Schulkameraden von 1913 bis in die 1950er betrachtet. Hans Boeckel ist einer der Anständigen, die sich dem Nationalsozialismus nicht anschließen, ihm aus politischer Naivität heraus aber auch keinen aktiven Widerstand leisten. Bruno Tiches hingegen ist erfolgreicher Mitläufer, der es stets versteht, obenauf zu bleiben und die Gegebenheiten zu seinem Vorteil zu nutzen. Während sich der Film hauptsächlich um diese Figuren dreht, geraten sie in der freien Adaption durch das Berliner Künstlerkollektiv andcompany&Co. eher zur Nebensache, obgleich der Rahmen derselbe bleibt.
Wie auch im Film wird das Publikum der Inszenierung von einem Erzähler und seinem musizierenden Kollegen (Wojo van Brouwer und Hans Kaul) durch den Abend geführt. Sie erzählen und begleiten Teile der Geschichte, die in buntem Treiben auf der Bühne illustriert werden, kommentieren das Geschehen, die Figuren und die sie verkörpernden Schauspieler, stimmen bissige Lieder an und animieren zum rhythmischen Mitklatschen. Folgt solchen Einlagen das Geschehen auf der Bühne wieder der eigentlichen Geschichte, wird davon berichtet, wie es Hans Boeckel (Gerrit Neuhaus) in seinem Studium in München ergeht, wie er erst seine erste, dann seine zweite große Liebe kennenlernt (beide gespielt von Marie-Isabel Walke), wie er in Dänemark heiratet und nach Deutschland zurückkehrt und dabei immer wieder auf den unverwüstlichen Opportunisten Bruno Tiches (Florian Eppinger) stößt.
»Quatsch mir nicht in die Kunst rein!«Von diesem Plot löst sich die Inszenierung immer wieder und schwenkt ins Eigene, ins Aktuelle, in den Zeitgeist um. Gespielt wird meist schnell, laut, schrill, bunt, sogar comichaft in mancher Szene. Das Bühnenbild, ein kubisches Gerüst mit drei Etagen, wird im Handumdrehen von einer Wohnung zur Zirkusmanege zum Führerbunker. Riesiges Pappmaché-Obst wird verkauft, zum Essen gibt es Plastikkühe, überkarikierte Hitler-Darstellungen zucken und speien über die Bühne, stets stilecht mit Isolierband unter der Nase und immer wieder finden sich Gegenwartsbezüge unterschiedlichster Couleur. Egal ob das Lena-Meyer-Landrut-Spektakel, der Sarrazin-Skandal oder die jüngste Guttenberg-Plagiats-Affäre, das Stück glänzt teils mit ,twitter-esker‘ Aktualität. Als Schlagzeilen marschiert dergleichen über die Bühne, wird in stammtischartigen Schlagwort-Ergüssen aufgegriffen oder schlicht, aber elegant mit Zeilen aus dem Film kommentiert. Dort, wo die Inszenierung sich teils wortgenau am Skript des Films orientiert, trägt das Spiel der Darsteller das Stück auf alberne Weise ins Heute.
Das führt bisweilen zu bizarren Szenen, die mit Wortwitz und Situationskomik dennoch nie aus dem Rahmen fallen. Dort, wo der Film nicht Pate stand, ist alles erlaubt; das andächtige Halten einer übergroßen symbolträchtigen Banane, während kommentarlos ein Portrait des kürzlich verstorbenen Peter Alexander über die Bühne getragen wird. Oder ein im Glitzerkostüm zaghaft heranhampelndes Figürchen, das schelmisch grinsend halblaut verkündet, es sei »das jüngste Gerücht« und wieder abgeht. Oder auch eine ad absurdum geführte Replik einer markanten Führerbunker-Szene aus der Feder Bernd Eichingers: »Lutz, wir sind hier nicht bei Der Untergang und du bist auch nicht Bruno Ganz!« – »Mit dem Angrriff Steinerrs wirrd das alles wiederr in Orrdnung kommen!«. Daran zeigt sich auch einer der größten Unterschiede des Stückes zum Film abseits des Aktualitätsbezugs: Die Figuren, die Schauspieler und der Erzähler stehen im Dialog, kommentieren sich gegenseitig und springen damit immer wieder aus ihren Rollen. Das wirkt an manchen Stellen witzig, an anderen zu gewollt, lässt sich aber durchaus als Parodie auf moderne, manchmal etwas übereifrig geratene dramaturgische Selbstkritik im Sinne Brechts sehen.
»Gepinkelt wird immer.«Der amüsante und vor allem schnelle Wechsel zwischen früher und heute, Plot und Rahmen geht jedoch auf Kosten der inneren Konsistenz des Stückes. Es wirkt anfangs wie eine Dichotomie, wenn sich am Film entlang gehangelt und zwischendurch immer wieder auf jüngeres und aktuelles Treiben rekurriert wird. Urplötzlich wird droben auf der Bühne über etwas ganz anderes gesprochen als im Satz zuvor, und manchmal fällt es schwer, die Fülle an Anspielungen, Verweisen und Persiflagen ad hoc gänzlich nachzuvollziehen. Darin findet sich einerseits Zeitgeist par excellence wieder; viel soll es sein, schnell und bunt, bloß keine Stagnation. Immerhin wird im Verlauf alles zunehmend breit gefächert, sodass dieser holprige Eindruck nicht über die volle Länge des Stückes bestehen bleibt. Andererseits deckt sich dieses Collagenhafte mit dem Gesamt-Konzept von andcompany&Co.
Das offene Künstlerkollektiv, das 2003 in Frankfurt am Main gegründet wurde, befasst sich meist mit der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und sieht alles mit allem irgendwie verknüpft. Es konstruiert in seinen Inszenierungen ein »dichtes Verweissystem«, das alle möglichen kulturellen Ideen und Ideologien schnell verwertet und verbindet. Das zeigt auch die Inszenierung von Wunderkinder überdeutlich. Wäre das Stück ein sachlicher Aufsatz – es gäbe womöglich mehr Fußnoten als eigentlichen Volltext. Und obgleich dieses Konzept auf den ersten Blick anstrengend erscheinen mag, ist es zu weit mehr fähig als zu bloßem Verweisen und Verwirren. Es vermag eine Art Entdeckerdrang zu wecken und wer sich mitziehen lässt, dürfte gespannt sein, was für eine Kuriosität sich als nächstes abspielt, was sich erkennen und was im eigenen Oberstübchen einordnen lässt. Die assoziative Art des Stückes steckt an. Schade nur, dass keine Zeit bleibt, um länger bei einem Gedanken zu verweilen.
Einiger Ungereimtheiten zum Trotz ist Wunderkinder ein urkomisch überzogener, mit beiden Augen zwinkernder Rundumschlag durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es erlaubt sich so einiges, trippelt leichtfüßig an komödiantischen Gefilden vorbei, die man sonst dem britischen Humor überantwortet weiß und hinterlässt in der Manier eines Till Eulenspiegel das Bild einer Gesellschaft, die vielleicht nicht weiß, was sie eigentlich grade tut, aber – immerhin! – für alles einen Namen hat.