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Der Phosphoreszierende Tiger III
Lyrik auf Rechnung
HAUSHALTSROLLEnächster Text

Abdruck der Gedichte mit freundlicher Genehmigung von Susann Körner

FELIX KABELJAUnächster Text

Abdruck der Gedichte mit freundlicher Genehmigung von Susann Körner

YUM YUMzum Anfang

Abdruck der Gedichte mit freundlicher Genehmigung von Susann Körner

Zu den Kassenbongedichten von Susann Körner

Susann Körner hat mit den Kassenbongedichten eine andere, sehr ungewöhnliche und innovative Art von ready-made-Lyrik hervorgebracht. In produktiver Weise weicht ihre Lyrik in Kassenbonsprache vom Phänomen der Konzeptkunst ab, wie ein kleiner Vergleich zeigt: Bei ready-made-Lyrik fällt einem unvermeidlich Peter Handkes Text »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968« ein. Der Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) enthält noch weitere objets trouvés, die durch ihre Neukontextualisierung in einem literarischen Werk über ihren zunächst informativen Inhalt hinaus künstlerischen Anspruch erheben, etwa der Zeitungsausschnitt »Lesen und Schreiben«, der Abspann eines Spielfilms in »Warner Brothers und Seven Arts zeigen:« oder »Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968«. Für den terminologischen Umgang mit dieser Art von Kunst hat Matías Martínez die griffige Unterscheidung zwischen dem Urheber und dem konzeptuellen Schöpfer vorgeschlagen. Handke ist zwar nicht der Urheber der japanischen Hitparade oder der Aufstellung eines Fußballvereines, wohl aber der konzeptuelle Schöpfer, der den illokutionären Akt dieser Texte vom ursprünglichen Informieren hin zum intendiert-ästhetischen Delektieren verändert. Bei Susann Körner reicht die Dichotomie ›Urheber – konzeptueller Schöpfer‹ jedoch nicht ganz aus.

Während Dichterinnen und Dichter auf die Wahl vorhandener Wörter unseres Sprachsystems zum lyrischen Ausdruck ihrer Gedanken begrenzt sind (und diese Begrenzung bei experimenteller Lyrik überschreiten), ist Susann Körner nicht auf die Selektion der Lexeme, sondern die der Waren begrenzt. Dadurch, dass die Waren in einer durchdachten Folge auf das Fließband gelegt werden, bestimmt Körner deren Abfolge auf dem Kassenbon. Der Rahmen des Kassenbons hingegen, der den Namen und die Adresse des Supermarktes sowie Preise und Summe der Einkäufe enthält, ist nicht von ihr gestaltet. Nicht ganz gewöhnlich ist bei dem Kassenbongedicht »HAUSHALTSROLLE…«, dass der Betrag von 36,99 € dem Bon zufolge passend in bar bezahlt wurde. Körner ist daher sowohl Urheberin als auch konzeptuelle Schöpferin der von ihr selbst aktiv zusammengestellten Kassenbongedichte, doch ist sie keineswegs Urheberin der Textsorte des Kassenbons. Ihre Gedichte sind, wie Benn es einmal in seiner bekannten Marburger Rede in Bezug auf die Wortgeschichte des Begriffes ›Poesie‹ (poíesis = Machen, Schaffen) betonte, durchaus etwas Gemachtes, das gewissen Aufwand benötigt. Für das Verfertigen drei neuer Kassenbongedichte, so Körner, sei das Sammeln von mehr als 2000 Einkaufszetteln vonnöten gewesen.

Nimmt man allein die Abfolge der Markennamen und Warenbezeichnungen als ›Text‹ des Gedichtes »HAUSHALTSROLLE…«, so entfallen entscheidende Informationen, die die Originalität des Kunstwerkes ausmachen. Der Rahmen trägt, mit Arthur C. Danto gesprochen, maßgeblich zur ästhetischen »Verklärung des Gewöhnlichen« bei, obgleich man bei einem Vortrag des Gedichtes wahrscheinlich auf die Lektüre des Rahmens und der Preise verzichten würde.

S. Körner

Das Interesse der Künstlerin Susann Körner (*1972) gilt vornehmlich Phänomenen des Alltags, denen sie durch einen verstellten Blick etwas Eigenartiges, in fruchtbarer Weise Befremdliches abgewinnt. Inzwischen hat sie mit akribischer lexikografischer Sammlerleidenschaft einen Kassenbonwortschatz nach Sachgruppen geordnet auf 210 Seiten zusammengestellt. Die mittlerweile 20 erhältlichen Kassenbongedichte lassen sich neben ihren innovativen Collagetexten und Textfragmenten zu Alltagsbeobachtungen auf ihrer Website www.susannkoerner.de einsehen.
 

N. Bernstein

Nils Bernstein forscht als einziger deutschsprachiger Romanist über den großen chilenischen Lyriker Nicanor Parra. Wenn er sich nicht gerade mit den 7 anderen Parra-Forschern zu internationalen Konferenzen in Lateinamerika trifft, promoviert er in Wuppertal oder lehrt an der Universität Hannover.
 

D.P.T.

Der Phosphoreszierende Tiger ist der Lyrik-Essay auf Litlog. Er bespricht Gedichte jenseits der Lehrbücher. Er legt einen anderen Zugang zum Gedicht – eine Sammlung mit schiefem Blick. Wer am Projekt mitwirken möchte, meldet sich bei den beiden Herausgebern Andreas Bülhoff und Niels Klenner unter phosphor@litlog.de.
 
 
Wie es für Lyrik – schon aus etymologischen Gründen – üblich ist, ist es auch für die Kassenbongedichte hilfreich, ja unerlässlich, sie laut zu lesen. Die Aneinanderreihung der Produktartikel enthält viele formale Merkmale, die ein Gedicht notwendigerweise aufweist: Kürze, Verse, sprachliche Originalität, etwa durch Wortwiederholungen und Äquivalenzen, und bei anderen Beispielen, wie dem Gedicht »FELIX KABELJAU…«, auch Reime. Hingegen entbehren die in Versalschrift gehaltenen und damit Umlaute nicht zulassenden Kassenbongedichte – wie zahlreiche Exemplare aus dem Lyrik-Kanon – zentraler Kriterien der Textualität, etwa Akzeptabilität, Situationalität, Kohärenz und Interpunktion. Feststellen können wir hingegen vor allem Kohäsion und Intentionalität. Denn der Textzusammenhang wird allein durch den Rezipienten hergestellt, ist aber ohne einen produktiven Leseakt nicht vorhanden.

Zunächst erfahren wir, dass Haushaltsrollen und ein Artikel namens Wisch & Weg erworben wurden. Noch mag man den Zettel für einen gewöhnlichen Kassenbon halten. Doch gibt es die Äquivalenz des wiederaufgenommenen Markennamens »WISCH & WEG« in jedem Vers mit gerader Zahl. So stellen wir Sinn zwischen dem Substantiv ›Traum‹ und der Aktivität ›wegwischen‹ her: Der »VANILLE TRAUM«, der »KRAEUTERTRAUM« und der »FRUECHTETRAUM« sind ausgeträumt. Und auch die »WOELKCHENCREME« erinnert uns daran, dass wir mit einem Wisch aus dem paradiesischen Wolkenkuckucksheim kapitalistischen Blendwerks vertrieben werden können. Nicht allein formal, auch thematisch nähert sich Körner damit einem althergebrachten Topos der Literatur an, denn seit jeher werden Traumgebilde und -inhalte in literarischen Texten verarbeitet.

In dieser Art des uneigentlichen Blicks, der Fremdstellung des allzu oft Wahrgenommenen werden die Bedarfsgegenstände des Alltags in eine neue Perspektive gerückt. Diese zunächst sinnfrei erscheinende, appellfreie Form einer L’art pour l’art der Konsumgesellschaft gewinnt der reinen Zweckmäßigkeit des käuflichen Erwerbs einen Mehrwert durch Vergnügen, Amüsement oder Erstaunen ab. In dem Gedicht »YUM YUM/ STUDENTENFUTTER…« modifiziert Körner die Marke »YUM YUM« – adäquat zu der aus der Comic-Sprache stammenden Interjektion – zu einem Appellativ als Ausdruck der Vorfreude auf den Genuss der wohlfeil angebotenen Produkte: Wir freuen uns auf »STUDENTENFUTTER«, »KAESE« und »POPP POTATOES» – ›mjam, mjam‹.

von Nils Bernstein



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 Veröffentlicht am 6. Dezember 2010
 Kategorie: Misc.
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 3 Kommentare
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3 Kommentare
Kommentare
 Michelle R.
 6. Dezember 2010, 18:33 Uhr

Ein sehr schöner Text! Eigentlich bin ich (bisher) nicht sonderlich an Lyrik interessiert, aber der “Phosphoreszierende Tiger” lässt mich aufhorchen.

 Hans Werner
 7. Dezember 2010, 11:42 Uhr

Auch ich bin nicht sonderlich an Lyrik interessiert, der Text gefällt mir aber sehr gut. Merkt man schon allein daran das ich ihn vom Anfang bis zum Ende intensiv gelesen habe. Eventuell werde ich noch zum Fan, lassen Sie es mich wissen wenn Sie einen neuen Beitrag liefern…
Dios bendiga usted Nils

 alena diedrich
 8. Dezember 2010, 14:44 Uhr

Romantische Poetisierung der Welt, dokumentiert am 12.12.200, 19:50 Uhr. Ein großartiges Konzept! Man bekommt gleich Lust selbst ein Gedicht einkaufen zu gehen…

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