In dem kleinen Raum unweit ein- und ausströmender Hochzeitspaare, in kosmopolitisch wirkender Weise »Tourist-Information« genannt, kramen junge Menschen in ihren Taschen, um die soeben erstandenen Konzertkarten sicher verstaut zu wissen. Nachdem Fans für Aufklärung gesorgt haben, wen die Stadt da eigentlich erwartet, hängt draußen auch das Werbeposter. Eine Ecke weiter, im Reisebüro, ist man ebenfalls vorbereitet, hier grüßt der Künstler gleich neben dem Ticketschalter in lässiger Pose von seinem Plakat herunter. Jetzt fehlt nur noch Paul Kalkbrenner selbst. Sein einziges Konzert in Niedersachsen will der Elektromusiker nicht etwa in der Landeshauptstadt oder einem anderen metropolenähnlichen Ort, sondern am 22. Oktober merkwürdigerweise in der Göttinger Lokhalle geben. Grund genug, sich seine neue Scheibe Icke Wieder einmal anzuhören.
Von Telse Wenzel
Komplizierte FaltereiUnd da beginnt die Verwirrung schon auf dem Cover. Wieder einmal hat Kalkbrenner mit dem Berliner Künstlerkollektiv Pfadfinderei zusammengearbeitet. Aber jetzt ziert weder der Musiker die Front noch weist ein Foto oder eine Grafik irgendeinen Weg. Stattdessen: Verpackungsästhetik. Leicht über- und untereinandergelegte rote Dreiecke ergeben ein Beinahe-Quadrat vor weißem Hintergrund und verschließen das Innere, das Album also, wie ein kompliziertes Faltsystem. Riesengroß prangt in weißer Schrift der Name des Künstlers in der Mitte, auf der Seite ist ganz klein, verschwindend klein, der Albumtitel angebracht: Icke Wieder.
Keine Öffnung nach außen also, die eigene Identität, und um die scheint es offenbar zu gehen, soll im Gegenteil mittels konsequenter Abschottung verteidigt werden. Das zumindest signalisiert das Cover, was verraten denn die Stücktitel? Album umgedreht, und da meint man nun Kalkbrenner leise unter seinem Kapuzenpulli schmunzeln zu sehen.
Der nämlich nennt seine Songs: Böxig leise – Gutes Nitzwerk – Jestrüpp – Schnakeln – Kleines Bubu – Des Stabes Reuse – Sagte der Bär – Kruppzeug – Schmökelung – Der Breuzen. Ein Mix aus Berliner Dialekt, Jugendsprache und Substantiven, die wohl nur noch für eine kleine Gruppe Eingeweihter entschlüsselbar sind, das alles noch garniert mit verschiedenen Verschiebungen im Vokalismus: fertig ist ein Neologismen-Dickicht, in dem man vergeblich nach einer sinnvollen Mitteilung Ausschau hält.
Der Bär sagt nichtsEin Titel nur klingt recht zugänglich und suggeriert, dass hier doch zumindest ein verbaler Austausch stattfindet: Sagte der Bär. Also einmal eingeschaltet, Stück sieben, was sagt denn der Bär? Der Bär sagt – gar nichts, der Titel ist genau wie der Rest des Albums instrumentell. Zum ersten Mal verzichtet Kalkbrenner auf alle Worte. Und das ist auffällig.
Schließlich war es doch die von Fritz Kalkbrenner gesungene Hymne auf den Sandburgen- und Luftschlösserbau, die Single Sky and Sand, die dem Bruder acht Jahre nach dem Debütalbum im Zuge des Berlin Calling-Hypes den internationalen Durchbruch bescherte. Stand denn dieser Musiker aus dem engsten Familienkreis nun nicht mehr zur Verfügung, wäre keine andere Kollaboration möglich gewesen? Für das Duo 2raumwohnung hatte Kalkbrenner doch einmal einen Remix auf den Knöpfen und Schaltern seiner Computer hervorgezaubert, wäre da kein für den Elektro-Popstar geschriebener Sommertext drin gewesen? Was zum Mitsingen?
Aber auf dem Album Icke Wieder musiziert Kalkbrenner im Zeichen der Authentizität gegen Teile seiner Hörer an und gegen die Regeln der Popularmusik, in die er zwischenzeitlich einen Abstecher gemacht hatte. Der schien ganz nett gewesen zu sein. Aber hier leben? Nein danke. Dem Massenpublikum verschließt der Musiker jetzt sorgfältig den Zugang.
Da spulen sich ruhige Soundfäden in lang ausatmenden Wiederholungen ab, laufen über- und untereinander. Ein neues Motiv tritt hinzu, steigert sich, gewinnt Raum, wird variiert, tritt wieder in den Hintergrund. Die für einen Popsong übliche Drei-Minuten-Einheit wird nirgends angepeilt, stattdessen umfassen die Stücke im Durchschnitt sechs Minuten.
Und die Themen? Windrauschen vielleicht, wechselnde Lichteinfälle, freies Feld, Farben im Herbst oder im Sommer. Abenddämmerung, Nacht. Auf jeden Fall muss man mit Kalkbrenner gemeinsam die Tür nach draußen genommen haben, die so sinnfällig im roten Faltquadrätchen auf dem Cover Gestalt angenommen hat. Es geht um Wirklichkeit ohne gesellschaftliche Begegnungen und Bezüge, Seelenlandschaften ohne Bodenhaftung. Ein Element taucht dabei immer wieder auf: Es klingt wie die ideale Vertonung von Lichtgeflacker.
Vor nicht allzu langer Zeit fand sich in Düsseldorf ein Trio zusammen, das genug hatte von der »optischen Umweltverschmutzung«.1 Sie gründeten eine Gruppe, nannten sich fortan Zero und traten unter diesem Motto gegen Werke des Abstrakten Expressionismus und bunte Werbeflächen an. Und zwar mit Bildern, die von nur einem Farbton oder seinen Abstufungen geprägt waren, einer Kunst, von der Ruhe und Reinheit ausgehen sollte.2
Das war Ende der 50er-Jahre und die Künstler hießen Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker. Sie sind, ihren Werken nach, Paul Kalkbrenners entfernte Verwandten. Denn der Weg, den der Musiker innerhalb des elektronischen Mediums einschlägt, ist ein ähnlicher, besonders auf dem neuen Album: Gegen herüberschwappende akustisch-verbale Fluten setzt der Berliner transparente Instrumental-Klangwelten. Kaltes klares Wasser.
Was sich Kalkbrenner vorwerfen ließe, ist seine konsequent eskapistische Haltung. Jemand wie der Rapper Casper würde wohl gern zur Loriotschen Zimmerverwüstung schreiten, um danach alles neu einzurichten. Auf seinem aktuellen Album Xoxo fordert der Hip-Hopper wortreich schon einmal den Aufstand in verschiedenen Facetten. Gegen Arbeitslosigkeit, Perspektivenmangel, Resignation. »Wir holen zurück, was uns gehört! Der Druck steigt!«, tönt es kämpferisch aus den Boxen. Da hat Paul Kalkbrenner schon längst das Haus wortlos durch die Hintertür verlassen. Mit Kopfhörern unter dem Kapuzenpulli, ab durchs nächste Jestrüpp.