Ein kranker Schriftsteller, der alleine an einem französischen Küstenort verweilt, steigert seine Gedanken zu einem Rant über seine gesamte Umwelt. Im Zustand stiller Auflösung ist ein Redeschwall, der das erklärende Nachwort definitiv benötigt.
Von Birthe Schmitt
Für die Indiebookchallenge hat sich Litlog an diesem dritten Advent ein verbotenes Buch aussuchen müssen. Mit Bora Ćosić᾽ Im Zustand stiller Auflösung ist bei Schöffling & Co. ein Roman erschienen, der bereits 1991 im Original unter dem Titel Rasulo in Sarajevo veröffentlicht wurde. Die deutsche Erstausgabe gehört nicht zu den verbotenen Büchern, Rasulo dagegen ließe sich tatsächlich dazu zählen. Kurz nach der Veröffentlichung brach der Balkankonflikt aus und serbische Kräfte zerstörten Bücher, die in der falschen Schrift, Lateinisch statt Kyrillisch, geschrieben waren. Bora Ćosić dazu im Nachwort:
Mir wurde erzählt, Radovan Karadžićs tapfere Männer hätten eine ganz neue Methode für ihre Vernichtung verwendet: Sie verbrannten die Bücher nicht, sie schütteten Treibstoff darüber, der das Material auflöste und einen Haufen Gedrucktes peu à peu in eine teigige Masse verwandelte.
Verbotene Bücher gibt es weltweit weit mehr, als man erahnen mag. Die Unterdrückung von Meinungen und Kunst geht dabei Hand in Hand. Dass Im Zustand stiller Auflösung wiederauferstanden ist, markiert einen wichtigen äußeren Umstand um den Inhalt des Romans nicht in einem falschen Kontext zu beurteilen.
Proust in AnführungszeichenÄhnlich wie in einem guten Tarantino-Film verrät die erste Szene – in diesem Fall das erste Kapitel – rückblickend große Teile der erzählten Geschichte:
Die Ereignisse in unserer europäisch-miniaturhaften intellektuellen Selbstbezogenheit entwickeln sich sowieso dermaßen krumm, dass man »krumm« mit nichtkrumm und »gerade« verwechselt, woher sonst die Halsstarrigkeit, mit der unser »Reiseführer« seinen Plan durchpaukt, und der heißt Tréboul, Tréboul und noch mal Tréboul.
Insgesamt dreizehnmal fallen auf der ersten Seite Ortsnamen: sechsmal Cabourg und siebenmal Tréboul. Beides sind französische Küstenorte. Jedoch geschieht ihre Nennung mit einem signifikanten Unterschied: Der Ich-Erzähler, ein alternder Autor, wünscht sich eine Reise nach Cabourg um auf den Spuren von Proust zu wandeln und ein Proust-Buch zu schreiben, das »nur bedingt von Proust« handele, »eher gehe es um einen ziemlichen unproustschen ›Proust‹, Proust in Anführungszeichen« sozusagen. Stattdessen landet der Autor mit seiner kleinen Reisegruppe in Tréboul. Er muss sich der Mehrheit der Reisegesellschaft unterwerfen und teilt seine Missgunst nur den Leser*innen ungefiltert mit.
Allegorisch geht es um die Vorstellung von einem Ort, der nie erreicht wird. Stattdessen ist die Erzählinstanz gefangen in ihren eigenen Gedanken über den physischen und psychischen Niedergang ihrer selbst. Auch die Anführungszeichen, die den gesamten Roman durchziehen, werden bereits im ersten Kapitel benannt. Sie indizieren die permanente ironische Distanz des Erzählers gegenüber sich selbst, der Reisegruppe und seiner gesamten Umwelt. So folgt man dem Gedankengang des grummelnden Autors über Stühle, Melancholie, Lästigkeit, den Hotelier, Brillen und allerlei anderes Profanes. Selbstverständlichkeiten durchkaut der Ich-Erzähler bis von diesen nichts mehr übrigbleibt.
Lesen ist sowieso ein ziemlich kompliziertes Phänomen, es kann einem das allertäglichste Sitzen unterm Sonnenschirm an einem nicht ungefährliche bretonischen Strand vermiesen, der wegen des plötzlichen Wechsels zwischen Ebbe und Flut nicht als richtiger Strand durchgeht, sondern eher solche widersprüchlichen, leidigen Vorfälle produziert, deretwegen ein dem Anschein nach anständiger Mann zur »Lektüre« greift, statt den bescheidensten aller bescheidenen Strände der Welt zu betrachten, einfach, um mit dem so gearteten, ziemlich dubiosen Strand, nichts zu tun zu haben.
Hinter den verschiedenen Abhandlungen über alles Mögliche, was sich in einem Urlaub so ereignen kann, in dem man eigentlich gar nicht sein wollte, aber sich nun doch befindet, könnte man neurotische Anlagen vermuten. Ein ständiges Andeuten einer Krankheit, die als »Etwas« umschrieben wird, steht dabei zeitweise im Mittelpunkt und lotst die Leserin auf eine falsche Fährte. Der Ich-Erzähler treibt seine Banalitäten auf absurde Art und Weise zu einer sehr speziellen Ironie, hinter der sich bitterböser Ernst versteckt.
NachwortDer ganze Planet biegt sich vor Hässlichkeit. Hässlichkeit regiert die Welt. Die überwältigende Mehrheit der Menschen ist hässlich.
Dieser Roman ist nicht unbedingt leicht zugänglich, aber die Leser*in kann sich an episch-langen Satzkonstruktionen erfreuen, die einen wahnsinnigen Humor pointiert zur Geltung bringen. Was außer Humor kann man dem aussetzenden Verstand der Menschheit entgegensetzten?