Im Oktober 1945 unternimmt der Göttinger Anglist Herbert Schöffler eine fachliche und persönliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Sein Versuch offenbart fachliche und gesellschaftliche Tendenzen weit über 1933 hinaus – und ist lesenswert.
Von Simon Sendler
»Denn wer von uns könnte sagen, er habe in gar keiner Weise mitgetan bei dem, was geschehen ist?«1 In der Tat. So mahnt der Göttinger Universitätsprediger Friedrich Gogarten am 16. September 1945. Der Gottesdienst ist gleichzeitig die Eröffnungsfeier des am nächsten Tag beginnenden Wintersemesters 1946/47 der neu eröffneten Universität. Eindrücklich weist Gogarten die Universitätsöffentlichkeit darauf hin, dass die Zeit des Nationalsozialismus keine alptraumhafte Episode für
Impulse und Aufrufe zur ehrlichen Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung und Geschichte in Bezug auf den Nationalsozialismus gibt es an vielen deutschen Universitäten, die nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet werden. Gehör finden sie selten; öffentlich folgen ihnen nicht viele Wissenschaftler*innen. Auf der persönlichen Ebene mag eine Aufarbeitung und Beschäftigung zwischen vertriebenen und geflohenen sowie den ›gebliebenen‹ Wissenschaftler*innen stattfinden. Auf institutioneller Ebene ist der Kurs der Universitäten, wie anderswo, auf eine ›Versöhnung‹ ausgerichtet, deren zentrales Interesse eher die Rehabilitierung der Deutschen als eine aufrichtige Beschäftigung mit den begangenen Verbrechen und dem Leid der Opfer ist. Entsprechend wird an Universitäten mindestens so viel Energie darauf verwendet, Professor*innen, die im Rahmen der Entnazifizierung ein Berufsverbot erhielten, wieder auf ihre Lehrstühle zu hieven, wie auf Bemühungen, vertriebenen und/oder zwangsemeritierten jüdischen Gelehrten wieder zu ihren vorherigen Positionen zu verhelfen.
Ein früher VersuchEinen Versuch einer so ehrlichen, die historischen Grundlagen des Nationalsozialismus ebenso wie die persönliche Verantwortung beachtenden Aufarbeitung unternimmt der Göttinger Anglistikprofessor Herbert Schöffler. Bereits am 18. und 19. Oktober 1945 hält Schöffler eine zweiteilige Vorlesung unter dem allgemeinen Titel Zur Lage. Die Vorlesung ist nicht im Original überliefert, der Göttinger Historiker Hermann Heimpel erstellt 1987 aus mehreren, teils nachträglich entstandenen Aufzeichnungen eine eigenwillige Kollation von Schöfflers Vortrag. Diese Fassung wirkt rhapsodisch und ist nicht immer leicht verständlich – ein Umstand, der neben der abenteuerlichen Überlieferung bereits durch Schöfflers diskursiven Vortragsstil bedingt ist. So liest sich die Eröffnung des zweiten Teils wie folgt:
Der Professor schuldet den Studenten Rechenschaft. So legt er seinen Hörern die Frage in den Mund:> wenn Du das alles so genau siehst, hast Du das vorher auch schon gewußt? Hast du Angst um Deinen Posten gehabt? [Du, was hast Du denn gemacht, am Kellerfenster der Weltgeschichte mit Blick auf die Beine der großen Aktoren?] Im Luftschutzkeller der deutschen Geschichte gesessen, nun herausgekommen und weißt nun ganz genau, wie sie geflogen sind und wie sie hätten fliegen sollen?2
Dennoch ist diese Zusammenstellung als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit Schöfflers Gedanken nutzbar.
Schöfflers Vortrag ist – das lässt sich trotz des frankensteinisch anmutenden Charakters des überlieferten Textes feststellen – beeindruckendes Zeugnis eines Versuchs der akademischen und persönlichen Selbst(wieder)findung, zumal von einem zentralen Akteur des Wiederaufbaus der Universität. Schöffler wird bereits unmittelbar nach der Befreiung Göttingens im April 1945 auf Anweisung der noch amerikanischen Militärverwaltung als Dekan der Philosophischen Fakultät eingesetzt. Im folgenden Sommer widmet sich Schöffler dem provisorischem Weiterbetrieb und der Wiedereröffnung der Universität.3
Von Köln nach GöttingenFür den Wiederaufbau der Universität scheint Schöffler eine naheliegende Wahl zu sein: Schon vor seiner Versetzung nach Göttingen im Jahr 1942 gerät er als Anglistikprofessor in Köln immer wieder mit den dortigen Autoritäten aneinander. 1933 wird er als Dekan der örtlichen Philosophischen Fakultät abgesetzt, da er sich weigert, an seiner Fakultät den Aufruf zur Wahl Hitlers zirkulieren zu lassen. In der Folgezeit wird Schöffler immer wieder Ziel persönlicher sowie fachlicher Anfeindungen. Im Jahr 1941 schließlich veröffentlicht er in der Wochenzeitung Das Reich eine Artikelserie namens der Witz der deutschen Stämme,4 die allgemein und besonders in der Darstellung des lokalen Humors in Köln Anstoß erregt.5
Feststellungen über die »Bücherferne«6 und die »bewußte[] Proletarierhaftigkeit«7 der Kölner in der ihnen insgesamt durchaus zugeneigten Schrift nehmen Student*innen der Kölner Universität zum Anlass, die von Schöffler den Kölnern attestierte »abgrundtiefe Weisheit«8 zu widerlegen und seine Veranstaltungen zu stören. Gauleiter Joseph Grohé besteht auf Schöfflers Abberufung, die diesen nach Göttingen führt. Dort wird Schöffler zwar erneut wiederholt für seine Einstellung zum Nationalsozialismus gerügt, hält andererseits aber auch Vorträge »in Offizierskursen und ähnlichen Lehrgängen«9 im Auftrag der Wehrmacht.10
Schöffler »gibt von sich«Der Inhalt seiner Vorlesung Zur Lage mag verwundern, wenn man bedenkt, dass Schöffler zwölf Jahre lang immer wieder mit den nationalsozialistischen Autoritäten innerhalb und außerhalb der Universitäten aneinandergerät und sich immer wieder einer Vereinnahmung der Wissenschaft und der Universität durch den Nationalsozialismus verwehrt. Der Göttinger Historiker Siegfried A. Kaehler fasst den ersten Teil der Vorlesung, die Schöffler vor über 500 Hörer*innen hält, in einem Brief an Heimpel abfällig zusammen: Schöffler »gibt von sich«11.
Hier beschäftigt sich Schöffler überwiegend geistesgeschichtlich mit dem Nationalsozialismus selbst sowie dessen Grundlagen, wofür er einen Bogen bis in das 16. Jahrhundert zurückschlägt. Kurz gesagt habe die Reformation durch die Zerschlagung der ›einen Kirche‹ der Säkularisierung den Weg geebnet. Die von der dezimierten Kirche hinterlassene Lücke habe letztendlich der Nationalsozialismus gefüllt.
Im zweiten Teil der Vorlesung betrachtet Schöffler seine persönliche Geschichte zwischen den Jahren 1933 und 1945. Dabei gesteht er ganz offen ein, dass er zwar keine Begeisterung für den Nationalsozialismus verspürt habe, aber dennoch zunächst »auf der Landkarte«, besonders durch den ›Anschluss‹ Österreichs und die Besetzung Frankreichs, von den Ergebnissen der Politik überzeugt gewesen sei. Über die nationalsozialistische ›Rassenpolitik‹ und ihre mörderischen Konsequenzen wiederum sei er entsetzt gewesen. Die britische Militärverwaltung sieht er positiv; die Universität stehe nach der Befreiung vom aufgezwängten Führerprinzip eine neue Blüte bevor.
Von Verführungen und KontinuitätenSchöfflers Anerkennung der militärischen Erfolge führt vor Augen, dass in dem selbst heute bisweilen noch vorgebrachtem Narrativ des ›verführten Volkes‹ ein Fünkchen Wahrheit steckt. Dies jedoch freilich nicht durch die Wirkung »demagogischer Verführung«12 seitens einer bedrohlichen Kabale der nationalsozialistischen Führungsriege, sondern durch eine Verführung, die am ehesten Ähnlichkeiten mit Sozialimperialismus aufweist. Menschen, die das Glück haben, als gute ›Volksgenossen‹ zu gelten, nehmen für die Möglichkeit, eine ›arisierte‹ (zwangsenteignete) Wohnung oder die Stelle eines vertriebenen oder inhaftierten Kollegen zu erhalten, bereitwillig das Leid von Millionen anderer Menschen in Kauf. Gerade Schöfflers Darstellung zeigt, wie sich auch Menschen, die im Allgemeinen ein eher distanziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus pflegen, sehenden Auges auf das System des Nationalsozialismus einlassen.13
Die Vorlesung Schöfflers führt aber auch eindrücklich Gogartens Hinweis auf die Kontinuitäten, die dem Nationalsozialismus den Weg bereiten, vor Augen. Schöffler gibt freimütig zu, als Student Antisemit gewesen zu sein und »den Juden als Aussauger gesehen«14 zu haben. Diese Haltung legt er erst durch positive Kontakte zu jüdischen Kollegen ab. Aber eben nicht nur die Gemeinsamkeiten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik mit dem Nationalsozialismus, sondern auch die Überbleibsel nationalsozialistischen Denkens in der Bundesrepublik führt Schöfflers Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus vor.
Trotz einer beteuerten Abkehr vom Antisemitismus weist der Vortrag übliche antisemitische Sprech- und Denkmuster auf, die nicht erst im Nationalsozialismus entstehen: Da ist die wiederholte Rede von ›dem Juden‹, die Diagnose »ihr Gehirn ist anders« (die direkt folgende Einschränkung »aber sicherlich nicht schlechter als unseres« verschlimmert die Feststellung eher, als dass sie wie intendiert eine Aufwertung darstellt), die Feststellung, ›der Jude‹ sei »sehr leicht ein Mensch des ›zu‹: Zu eitel, oder zu schmuddelig bis zum Riechen […]«, weshalb »Gefahr in diesem Charakter« stecke.15 Daher dürfen Juden auch an der Universität nicht ›zu‹ stark vertreten sein: »Eine Fakultät kann 2–3 vertragen.«16 Entsprechend verwundert es kaum, dass Schöffler bei der Erinnerung an seine Reise nach Istanbul 1935 die Tatsache, dass an der dortigen Universität von 32 Professoren 29 deutsche Juden sind, aus Deutschland vertrieben,17 nur lapidar kommentiert: »amüsant!«18
Beschönigung, Vertuschung und ein Hauch AufarbeitungWalter Kertz, der seit dem Wintersemester 1944 in Göttingen Mathematik studiert, stellt 1985 auf die Entnazifizierung der Studierendenschaft rückblickend fest: »Auch die mir bekannten Studenten hatten keine ernsthaften Schwierigkeiten mit der Entnazifizierung. Mit Erstaunen stellten wir fest, daß es im Dritten Reich unglaublich viele Widerstandskämpfer gegeben hatte, wirklich: unglaublich.«19 Dieses Herauswurmen aus einer tatsächlich wirksamen Entnazifizierung kann allgemein, aber eben auch im universitären Umfeld, als repräsentativ gelten. Noch weiter gehen Wissenschaftler wie der ehemalige SS-Führer und spätere Romanist Hans Robert Jauß. Er schreibt sich im Wintersemester 1945 mit gefälschten Unterlagen zunächst in Bonn, nach Kriegsgefangenschaft dann im WiSe 1948 immer noch unter teils falschen Angaben an der Universität Heidelberg ein. Seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS versucht er sein Leben lang zu verbergen.20 Noch dreister ist die »Vergangenheitsbewältigung« des SS-Führers Hans Schneider, der sich nach Kriegsende durch seine Frau für tot erklären lässt und als Germanist unter dem Namen Hans Schwerte 1970 Rektor der RWTH Aachen wird.21
Neben diesen Versuchen, einen Neubeginn durch Beschönigung oder gleich komplette Verdrängung zu begehen, sticht Schöfflers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hervor. Schöfflers ebenso geistesgeschichtlich differenzierte wie politisch unkritische, aber stets brutal ehrliche Abrechnung mit den zwölf Jahren des ›Tausendjährigen Reiches‹ ist in ihrer Art und der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung zum Kriegsende wohl ein einzigartiges Zeugnis. Sie ist keine Apologie; Schöffler scheint zu keinem Zeitpunkt das Ziel zu verfolgen, sein Leben und Wirken zu rechtfertigen oder zu beschönigen. Sein Bewältigungsversuch ist zwar problematisch und kann keineswegs als erfolgreich bezeichnet werden, verdient allerdings für seine Ehrlichkeit und als frühe Bemühung, die Rolle eines ›passiven‹ Nutznießers des Nationalsozialismus zu reflektieren, Aufmerksamkeit.
Ein Neubeginn als EndeFür Schöffler markiert Zur Lage den Anfang vom Ende. Klar ist: Seine Art der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erregt Anstoß bei Publikum, Kolleg*innen und der britischen Militärverwaltung. Trotz einer Rüge des Alliierten Kontrollrates wiederholt Schöffler Teile der Vorlesung am 28. Oktober vor Student*innen im Theater.22 Am 10. November 1945 folgt ein Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften unter dem Titel Labour Party and Religion. Der genaue Inhalt des Vortrags ist nicht überliefert, allerdings greift Schöffler auch hier bereits in Zur Lage vorgebrachte Punkte wieder auf.23
Schöfflers Personalakte dokumentiert eindrücklich die Reaktionen auf diesen Vortrag, der noch größeren Anstoß erregt und sowohl zu Beschwerden der Akademie wie auch der britischen Militärverwaltung führt.24 Letztere nimmt den Vortrag zum Anlass, eine sehr konkrete Warnung an Universitätsrektor Smend auszusprechen: Angehörige der Universität sollen sich politischer Aussagen enthalten, damit sich nicht »einzelne Göttinger Universitätslehrer plötzlich vor einem britischen Militärgericht wiederfinden.«25 Daher mahnen Rektor und Senat die Hochschullehrer*innen zu »grösste[r] Zurückhaltung in politischen Äusserungen in den Vorlesungen«.26 Smend ist bestrebt, im Interesse der gesamten Universität Gras über die Sache wachsen zu lassen. Schöffler nimmt einen ihm nahegelegten Erholungsurlaub und verzichtet »in absehbarer Zeit«27 auf öffentliche Auftritte. Dem auch aus den Anstrengungen des Wiederaufbaus der Universität resultierenden, ärztlich attestierten, »ans Pathologische grenzenden Erregungszustand […] auf den sein seit einigen Wochen vielfach hervortretender Mangel an Selbstkritik«28 zurückzuführen sei, entkommt Schöffler nicht mehr. Am 18. April 1946 begeht Herbert Schöffler Selbstmord.