Jackie Thomae eröffnet den 29. Literaturherbst im Gespräch mit Charlotte Milsch über ihren Roman Brüder. Es geht um zwei unterschiedliche Brüder, die doch etwas verbindet: ihr Getriebensein im Streben danach, sich zu beweisen und in einer Schubladengesellschaft ihr Glück zu finden.
Von Katharina Gläßer
Race, Class, Gender – Kategorien, die im 21. Jahrhundert allgegenwärtig sind und jede:n unausweichlich verfolgen, denn Fremdwahrnehmung besitzt heutzutage einen größeren Stellenwert als Selbstwahrnehmung. Sie leitet, erfreut, kategorisiert – und in den meisten Fällen lässt sie verzweifeln: Sie sorgt für Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen, weil niemand eingeordnet werden will. Trotzdem ist dieses Schubladendenken eine Alltäglichkeit, die jede Handlung unterschwellig begleitet und das Leben bestimmt. Die Reaktionen auf diese Fremdzuschreibungen sind häufig gegenteilig: Leistung oder Resignation. Beide Reaktionen haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Sie gehen von einem Menschen aus, der versucht, sein Leben selbst in eine Richtung zu bewegen, egal was die anderen sagen.
Diese beiden Handlungsmöglichkeiten haben einen gemeinsamen Ursprung. Sie sind Brüder wie Gabriel und Mick, die Protagonisten von Jackie Thomaes Roman Brüder. Beide sind 1970 geboren und haben denselben Vater, aber zwei unterschiedliche Mütter. Sie werden sich nie kennenlernen und doch haben ihre Charaktere neben ihrer Herkunft noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie sind Getriebene, auf der Suche nach ihrem Glück, nach einer Tätigkeit, in der sie der Welt etwas beweisen können. Etwas, das über ihre Hautfarbe hinausgeht. Etwas, das nur sie ausmacht und von den anderen abhebt, aber genauso etwas, das sie sich zugehörig zur Gruppe fühlen lässt. Eben darum geht es, nicht mehr der Andere, der Fremde, zu sein, kein Außenseiter, sondern endlich Teil der Gemeinschaft.
Außenseitertum und IdentitätsfragenDie beiden Brüder könnten kaum konträrer sein: Mick ist ein Träumer, der sich durch die finanzielle Zuwendung des neuen Mannes seiner Mutter durch die West-Berlin-Szene schlägt und nach etwas sucht, in dem er sein Glück finden kann. Die Autorin drückt es so aus: »Mick ist der, wenn man es kurz macht, der Hallodri, der sehr lange damit durchkommt, eigentlich nichts zu machen, außer die wiedervereinte Stadt Berlin zu genießen, was zu diesem Zeitpunkt wirklich sehr viel Spaß gemacht hat.« Gabriel hingegen ist ein leistungsbesessener Überperformer, der während seiner Ausbildung nach London geht, um endlich kein Außenseiter mehr zu sein: »Ich war nach London gekommen, um einer von vielen zu werden.« In London erhofft er sich, eine postrassistische Gesellschaft anzutreffen, in der er sich mit dem »Paranoia Rassismus« nicht mehr auseinandersetzen muss. Doch leider machen ihm die Menschen, mit denen er zusammen ist, einen Strich durch die Rechnung. Egal was oder wie Gabriel auf die Fremdwahrnehmungen reagiert, er kann sich nicht nicht positionieren – alles, was er tut, wird als Standpunkt gedeutet. Es ist eine unablässige Spirale, aus der er nicht herauskommt, obwohl er alles dafür versucht.
Was Thomae in ihrem 2019 auf der Shortlist des deutschen Buchpreises nominierten zweiten Roman beschreibt, ist die unablässige Suche nach Identität, nach Antwort auf die Fragen: »Wer bin ich?« und »Wer will ich sein?«. In ihrer Lesung umreißt die Autorin ihr Interesse folgendermaßen: »Wie werde ich zu dem Menschen, der ich in der Mitte meines Lebens bin?« Der autofiktionale Zusammenhang zwischen der Biografie der Autorin und dem Setting des Romans macht die Geschichte authentisch und beschreibt zugleich die thematische Richtung des Gesprächs mit der Autorin, das am 1. Oktober 2020 den 29. Göttinger Literaturherbst eröffnet. Während Moderatorin Charlotte Milsch vorrangig auf den Inhalt des Romans Bezug nimmt und spannende Interpretationsansätze hinsichtlich des Handlungsverlaufs, der Charaktere und der Erzählperspektive liefert, zeigt Jackie Thomae auch immer wieder Parallelen zu ihrer eigenen Biografie auf. Dadurch plätschert der Abend angenehm dahin und wird vergleichbar mit der Beschreibung des Schreibprozesses, den Thomae keinesfalls als reißbrettartige, sondern als fließende Bewegung beschreibt.
So macht Thomae den Festivalprolog über ein so ernstes Thema zu einem ausgelassenen, humorvollen und gleichzeitig ergiebigen Abend, der die Zuschauer:innen mit Fragen über sich selbst nach Hause schickt: Leistung oder Resignation – was ist meine Reaktion auf Fremdzuschreibungen? Dabei nimmt Thomae nicht nur Bezug auf die Protagonisten ihres Romans, sondern gibt sich auch als lockere Erzählerin in Plauderlaune, die alle anfänglichen Bedenken über den Verlauf des Abends im Nu wegwischt. Schließlich handelte es sich dabei nicht nur um einen weiteren Halt ihrer Lesereise, sondern auch um die Feuertaufe des diesjährigen Literaturherbstes ON AIR. Davon lassen sich Autorin und Moderatorin jedoch gar nicht beeindrucken und beginnen ihr Gespräch über den Roman ganz unaufgeregt wie einen Smalltalk unter Freundinnen, was die Stimmung der Lesung zusätzlich auflockert.
Rassismus als Dauerrauschen des Romans?Brüder glänzt insbesondere durch seinen subtilen Umgang mit dem Thema Rassismus, denn eigentlich handelt er von zwei Männern, die einfach nur ihren Platz im Leben suchen. Und genau das war auch von Anfang an der Plan, wie Jackie Thomae berichtet. Sie wollte nie einen Roman über Rassismus schreiben, sondern eine Familiengeschichte, die zudem noch ziemlich nah an ihre eigene heranreicht.
Der Titel Brüder spielt mit einem der vielen Klischees, mit denen sich die Protagonisten im Buch herumschlagen müssen, und die auch die Autorin selbst sehr gut kennt, wie sie im Gespräch mit Milsch verrät. Es sei nicht nur eine Anspielung auf die familiäre Beziehung der beiden Brüder, sondern auch darauf, wie sie von der restlichen weißen Gesellschaft gesehen werden: Sie sind schwarz und seien daher als People of Colour eine »Brotherhood«. Bewusst ironisch nimmt Jackie Thomae Bezug auf diese Klischees, die auch heute noch gang und gäbe sind, und lockert damit das ernste Thema auf.
Nach all den Problemen, denen sich die Charaktere stellen und die immer wieder auf das eine Thema zurückzuführen scheinen, stellt Milsch die entscheidende Frage: Ist Rassismus das Dauerrauschen des Romans? Die Autorin antwortet darauf ganz klar mit »nein«. Rassismus stehe für sie nicht im Mittelpunkt der Geschichte. Die Herkunft sei vielmehr ein Teil der eigenen Identität, die jeder Mensch ergründen wolle. Es sind Fragen über Beziehungen, Emanzipation, Erinnerungen und auch Herkunft, die im Fokus der Identitätssuche stehen. Das Thema Rassismus fungiert in diesem Roman als latentes »Topping«, das immer mal wieder anklingt, doch meist genauso subtil und humorvoll beantwortet wird, ohne richtig problematisch zu werden, wie es Thomae mit dieser Einordnung selbst tut. Man müsse dafür bereit sein, auszupacken – und das ginge nur, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen sei, weiß sie aus eigener Erfahrung zu berichten.
Der gelungene erste Abend des 29. Literaturherbstes endet genauso gelassen und entspannt, wie er begann – und das liegt nicht unwesentlich an der Ruhe und Zufriedenheit, die Thomae ausstrahlt. Eines steht fest: Sie ist sich ihrer Sache sicher. Das vermittelt sie auf eine charmante Art und Weise, die sie selbst nicht nur als interessante und vielschichtige Persönlichkeit herausstellt, sondern auch ihr Buch unbedingt lesenswert macht!