Den Ausgang der Handlung kennen und trotzdem Spannung empfinden – unmöglich, wenn Ungewissheit die Voraussetzung für Spannung ist. Forscher stoßen an ihre Grenzen, wenn es um dieses Paradox der Spannung geht. In den kommenden drei Essays werden Probleme aufgezeigt, Erklärungsansätze vorgestellt und hinterfragt, ob Lösungen tatsächlich in dem Bereich der Textwissenschaften liegen oder vielmehr im Feld der Evolutionspsychologie und Kognitionswissenschaft zu suchen sind.
Von Carina Lefeber
Wer ein spannendes Buch liest, vergisst alles um sich herum. Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich darauf, was auf den nächsten Seiten passiert. Man ist gespannt – auf den Ausgang der Handlung.
In der Spannungsforschung gilt demnach als Grundvoraussetzung für das Empfinden von Spannung, dass sich der Leser in einem Zustand der Ungewissheit befindet und dem Handlungsausgang entgegenfiebert. Nach allgemeinem Konsens der Spannungsforschung dürfte es sie daher nicht geben – die Mehrfachleser, die sich beim Beenden einer spannenden Lektüre schon darauf freuen, das Buch irgendwann einmal wieder zu lesen, um erneut so viel Spannung zu erleben. Doch nur weil die Forschung bei den Zweit-, Dritt- oder Zehntrezipienten an ihre Grenzen stößt, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass spannende Bücher und Filme vielfach erneut rezipiert werden. Populäre Werke wie die Harry Potter-Reihe werden von ihren Fans immer und immer wieder gespannt konsumiert, obwohl sie wissen, dass Harry am Ende über das Böse siegt. Wie ist es also zu erklären, dass uns dieselben Bücher oder Filme wiederholt in einen Zustand der Spannung versetzen können?
In der Spannungsforschung wird dieses Phänomen als Paradox der Spannung bezeichnet. Eine spannende Zweitrezeption steht der gängigen wissenschaftlichen Auffassung von Spannung entgegen. Für die Auflösung des Paradoxes kommen zwei Möglichkeiten infrage: die Aussagen von Rezipienten über das erneute Empfinden von Spannung sind falsch oder die Annahme, dass Spannung durch Ungewissheit entsteht, ist unzutreffend.
Vor allem die Subjektivität des Spannungsempfindens erschwert es der Literatur- und Filmwissenschaft, Spannung zu analysieren, zu erklären, zu definieren. Auch der heterogene verwendete Alltagsgebrauch des Begriffs führt zu Uneinheitlichkeit und Unklarheit darüber, welche Art der Spannung gemeint ist und wissenschaftlich untersucht wird. So können Spannungen auf Textebene entstehen (tension), Spannungen zwischen Figuren, eine der Angst ähnliche Form (thrill), die Rätselspannung (mystery), die Hitchcocksche suspense (die aus dem Informationsvorsprung des Rezipienten gegenüber den Figuren entsteht) und zahlreiche Abwandlungen der Konflikt- und Bedrohungsspannung (ebenfalls suspense genannt). Die verschiedenen Spannungsarten sollten also zunächst einmal klarer voneinander abgegrenzt und jede für sich näher untersucht werden.
Ein scheinbar gewinnbringender Abgrenzungsversuch der Literaturwissenschaftlerin Daniela Langer bezieht sich auf die Informationsvergabe des Inhalts, im Gegensatz zu nicht-handlungsorientierten Spannungsformen, bei denen es sich vor allem um »statisch-strukturelle Textspannungen« 1, beispielsweise in der Lyrik handelt. Handlungsorientierte Spannung findet sich in Langers Unterscheidung auf der Inhalts- und Handlungsebene wieder. Nur auf dieser Ebene lasse sich das Paradox der Spannung als handlungsorientierte Spannung untersuchen.
Ungewissheit und IdentifikationGenretypisch, mitunter sogar –konstituierend ist die Rätselspannung, mit der Krimis arbeiten. Sie drängt nach der Auflösung des ´wie´ etwas passiert sein könnte und – Sherlock Holmes lässt grüßen – lockt durch den Spaß an Deduktion. Im Zentrum des allgemeinen Forschungsinteresses stehen jedoch ganz klar die Bedrohungsspannung, die klassischerweise aus der Angst um den bedrohten Protagonisten hervorgeht; im Laufe der Handlung ergeben sich zwei mögliche Ausgänge, von denen der vom Leser favorisierte (in der Regel das Happy End) immer unwahrscheinlicher wird. Je größer die Wahrscheinlichkeiten der Handlungsausgänge dieses binären Systems voneinander abweichen, desto mehr fiebert der Leser mit. Je unwahrscheinlicher es also erscheint, dass Harry Potter dem Tod entrinnen und die Zaubererwelt vor der Übernahme der Macht durch Voldemort und sein Todesser-Regime bewahren kann, desto spannender wird es für den Leser – jedoch nur, wenn der Handlungsausgang ungewiss bleibt. Wüsste der Rezipient von Harrys Sieg, könnte dieses binäre Bedrohungsschema seine Wirkung nicht entfalten – so der Tenor der Forschung.
Das viel zitierte Bedrohungsspannungs-Modell Ralf Junkerjürgens, das den Leserwunsch eines bestimmten, scheinbar unwahrscheinlichen Ausgangs der Geschichte beschreibt, setzt voraus, dass der Leser mit dem Protagonisten sympathisiert.2 Auch Dolf Zillmann knüpft Spannungserzeugung eng an eine positive Beziehung der Rezipientin zum Protagonisten.3 Peter Vorderer schließt sich diesen Überlegungen an und erweitert sie in seiner Theorie der variable of relationships um die Fragen, welche Figuren der Leser mehr mag, besser kennt, wem er sich eher verbunden fühlt oder zu wem er gerne eine Beziehung aufbauen würde.4 Im Gegensatz dazu weist Claudia Hillebrandt in ihrer Untersuchung des emotionalen Wirkungspotenzials von Erzähltexten darauf hin, dass es keinerlei empirischen Beleg für die Notwendigkeit einer positiven Beziehung zwischen Rezipient und Protagonist gibt; wenn auch nicht als spannungserzeugend, so gelten diese affektiven Prozesse der Empathiebildung jedoch unbestritten als spannungssteigernd.5 Der Grad der Identifikation, die Sympathie des Lesers mit Harry Potter sowie die Nachvollziehbarkeit seiner Gedanken und Gefühle nehmen demnach Einfluss auf das Spannungsempfinden.
Doch die Grundvoraussetzung für die Erzeugung von Spannung ist im Forschungskonsens die Ungewissheit in Bezug auf die Handlung. Eine gut dosierte Informationsvergabe evoziere kognitive Prozesse beim Leser, der den Zustand der Ungewissheit auflösen wolle und eben dadurch Spannung empfände. In ihrem Überblick über den Forschungsstand der Suspense- und Spannungsforschung führen Hans J. Wulff und Stefan Jenzowsky die »Unsicherheit eines Verlaufs« sowie das »Spiel mit Erwartungen« als elementare Aspekte der Spannung an. Gleichzeitig verweisen sie jedoch auch auf das bis dato ungelöste Problem des Paradox der Spannung: »Ein weitreichendes Problem für die Analyse der Spannung entsteht aus der Tatsache, daß spannungsevozierendes Material offenbar mehrfach hintereinander rezipiert werden kann – und die Rezipienten dennoch angeben, Spannung zu empfinden«.6 Seitdem sind einige wenige Erklärungsansätze erschienen, zufriedenstellend aufgelöst wurde das Paradox jedoch nicht. Die Forschung bezieht sich immer wieder auf sich selbst und wiederholt die Bedeutung von Ungewissheit über den Ausgang der Handlung als Grundvoraussetzung für das Erzeugen von Spannung beim Leser – trotz des Wissens um das Paradox der Spannung und die Fragen, die sich daraus für die Erforschung von Spannungserzeugung ergeben.
Wie lässt sich dieser gordische Knoten durchhauen? Forscher wie Robert J. Yanal, Kendal Walton, Richard J. Gerrig und Noël Carroll haben sich mit den Annahmen, aus denen sich das Paradox der Spannung ergibt, auseinandergesetzt und verschiedene Erklärungsansätze entwickelt. Im zweiten Teil dieses Essays werden die Theorien vorgestellt – und gezeigt, warum die Lösung des Paradox der Spannung nicht im Bereich der Textwissenschaften liegen kann.