»Reise bedächtig« – das rät der britische Autor Dan Kieran dem modernen Touristen in SLOW TRAVEL. Die Kunst des Reisens. Selbst ist Kieran nie per Flugzeug unterwegs, dafür aber in elektrischen Milchwägen und auf mongolischen Pferderücken. Sein Plädoyer stolpert aber trotz Lob der Langsamkeit über die eigenen Füße.
Von Johannes Kuhlau
Alles wird schneller, globaler, vernetzter; der moderne Mensch ist gehetzt und gestresst, Burnouts, wohin das Auge blickt, und niemand hat mehr Zeit für die einfachen, guten Dinge – so weit, so bekannt. Nicht einmal in der Freizeit, im Streifen durch die Welt, im Reisen und Urlauben findet der Mensch noch zu sich, rastlos jagt ein Wochenendtrip den nächsten, eine Ostasienreise nach der anderen schmückt zwar das Facebook-Profil, führt jedoch nicht zur angestrebten Einswerdung mit Welt und Selbst. Was tun?
Hier setzt Autor Dan Kieran ein mit seinem halb anekdotischen, halb philosophischen Reisemanifest SLOW TRAVEL. Die Kunst des Reisens. Bereits der Titel verrät sein Hauptanliegen: Langsamkeit. Der langsame Reisende ist der gute Reisende, möchte man schließen, wobei Kieran uns schon auf den ersten Seiten korrigiert, denn es ginge ihm nicht um Langsamkeit, sondern um Bedächtigkeit, um wahres, bedächtiges Reisen, denn: »Wahres Reisen weckt den Poeten und den Philosophen in jedem von uns«.
Nun ja. Der Leser wittert: Hier fangen die Probleme schon an. Bevor auch nur ein wertvoller Hinweis gegeben wurde, wie dieses »wahre« Reisen denn nun aussehen könnte und ob man unterwegs trotzdem Fotos fürs Facebook-Profil schießen darf, stolpert Kieran schon das erste Mal über seinen missionarischen Eifer. Das Inhaltsverzeichnis besteht aus Imperativen (»Folge deinem Instinkt!«, »Verliere den Kopf!«), und auch sonst erinnert der Stil häufig an den einschlägiger Selbsthilfebücher. Erste Zweifel kommen auf, ob Dan Kieran in seinem schmalen 200-Seiten-Bändchen tatsächlich wird verraten können, wie der versprochene »völlige Wechsel der Perspektive« und die »Reise in die eigene Seele« in drei Wochen Jahresurlaub gelingen werden.
Die starke Seite an SLOW TRAVEL sind die vielen persönlichen Reiseerfahrungen, die der Autor anekdotenhaft einflicht, und die als Ausgangspunkt für weiterschweifende Überlegungen zum Reisen an sich dienen.
So erzählt Kieran von seiner Flugangst, die ihn zwang, zu einer Hochzeit in Warschau in 24-stündiger Zugfahrt anzureisen. Eindrücklich schildert der britische Reiseschriftsteller, wie die Fahrt über den Kanal und durch Frankreich, Belgien, Deutschland bis nach Polen seinen Blick auf kleine Unterschiede und Gemeinsamkeiten der europäischen Staaten lenkte, ihm Zeit zur Reflexion gab und ihn vom alltäglichen Gedankentrott abschweifen ließ.
Amüsant auch zu lesen, wie Kieran aufgrund einer Wette vier Wochen lang mit einem elektrischen Milchwagen bei Minimalstgeschwindigkeit quer durch England fährt oder trotz eines Orkans zum Beobachten von Adlern zu den Hebriden aufbricht.
SLOW TRAVEL hätte eine schöne, persönliche Bekenntnisschrift zum manchmal umständlichen, jedenfalls bedächtigen Reisen werden können, fußend auf den vielfältigen Erfahrungen des Autors. Betrachtet man den Boom von besserverdienenden »das Gute steckt im Kleinen«-Instanzen à la Landlust, manufactum und Slow Food, hätte der Autor damit wohl auch mitten hinein in den herrschenden Zeitgeist getroffen.
Hätte. Denn persönliche Anekdoten zu erzählen reicht Kieran nicht. Der Autor versucht sich an einer »Philosophie der Langsamkeit«, an der er sich leider völlig verheben muss.
Beim riesenhaften Anspruch, eine neue Denkschule zu etablieren, stören zunächst besonders die zahlreich vorhandenen Stilblüten und Plattitüden. So stellt der Brite etwa aus blauem Dunst heraus fest, dass, »wenn man in die entgegengesetzte Richtung unterwegs ist als die meisten anderen, […] es gewöhnlich ein Zeichen dafür [ist], dass man einen interessanteren Weg eingeschlagen hat«. Oder eben dafür, dass man woanders hin will.
Sehr unappetitlich wird es in der zweiten Hälfte des Buches, in der Kieran anfängt, aus diversen neurowissenschaftlichen Studien zu zitieren. Die Forschung zur Aufgabenverteilung der beiden Hirnhälften hat es ihm angetan, und so wird er nicht müde, beständig darauf hinzuweisen, dass das bedächtige Reisen eher die kreative Hirnhälfte anrege und weniger die rationale, die wir gebeutelten Menschen der westlichen Welt eh schon 24/7 in unserer arg intellektualistischen Kultur einzusetzen gezwungen sind. Man kann voraussetzen, dass die meisten Leser dieses Reiseführers ebenso wenig wie Kieran Naturwissenschaftler sind (letzterer hat ein Kunstgeschichtsstudium abgebrochen), und es erscheint schon unter dem Laienblick als hanebüchen, welch hochtrabende Einsichten Kieran aus wenigen sehr speziellen Forschungsberichten meint ziehen zu können. Eine Studie, möchte man ihm zuflüstern, liefert selten universell interpretierbare Ergebnisse, sie legt höchstens einen Schluss nahe.
Um Beispiele für das »kreative« bedächtige Reisen anzubringen, bezieht sich Dan Kieran im Weiteren auf zwei Reiseberichte. In dem einen reist eine depressive amerikanische Journalistin in den brasilianischen Dschungel, um mithilfe eines psychoaktiven Trunks, den ihr ein Medizinmann mischen soll, ihre Krankheit zu überwinden (Jay Griffiths, Wild). Im anderen macht sich ein britisches Paar mit seinem autistischen Kind auf den Weg zu Reiternomaden in der Mongolei, damit die dortigen Schamanen den Jungen (unter anderem mit Schlägen) von den schwersten Konsequenzen seines Autismus befreien (Rupert Isaacson, Der Pferdejunge). Spätestens an dieser Stelle besteht die Gefahr, dass sich das Interesse am bedächtigen Reisen auf das Niveau verringert, von dem aus mancher auch gütig lächelnd die Heilerfolge derjenigen beglückwünscht, die ihre Kopfschmerzen mit Zuckerkügelchen zu vertreiben vermögen. If it’s good for you, it’s good.
Alles in allem vereint Dan Kieran in SLOW TRAVEL. Die Kunst des Reisens viele amüsante und einleuchtende Beobachtungen zum derzeitigen Reisewahn. Mit seiner Kritik des Fast-Travels als billiges Konsumgut rennt er zudem beim bildungsbürgerlich geprägten Publikum offene Türen ein. Dass bewusstes Reisen etwa durch die Uckermark mehr den – nicht überall, aber häufig – vorhandenen Anspruch auf Horizonterweiterung erfüllen dürfte als kopfloses Herumgejette um den Globus (1000 Places to See Before You Die), dürften mittlerweile die Meisten zumindest erahnen. Leider macht der Autor hier aber nicht Halt. Die abstrusen Beispiele, die an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen zur Hirnforschung und die naive Art, anhand sehr spezieller Einzelfälle ganze Glaubenssätze zu begründen, machen das Buch auf weite Strecken hin schwer lesbar. Schuster, bleib bei deinem Leisten.