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Wallstein-Jubiläum
Beweis meiner Glaubwürdigkeit

Was geschieht eigentlich, wenn der letzte Überlebende der Schoah zu Grabe getragen wird? Wenn die letzte Schriftstellerin, die in der Lage ist, den Nachgeborenen vom Alltag der Vernichtung zu erzählen, stirbt? Wird dann Erinnern nur noch in Form der ritualisierten Gedenkkultur vor den in Beton gegossenen Mahnmalen stattfinden, die bisher mindestens ebenso viel zum wohligen Vergessen beigetragen haben wie zum Wachhalten der Erinnerung? Wird dann der Holocaust zu einem historischen Ereignis wie die Napoleonischen Kriege, über das man in Schul- und Sachbüchern lesen kann, das aber nicht mehr in die Familiengeschichte eingebrannt ist, nichts mehr zutun hat mit der Biographie lebender Menschen, denen man begegnet ist oder denen man zumindest begegnen könnte und sei es auch nur auf einer Lesung?

Von Christian Dinger

Diese Fragen stellen sich heute mehr denn je. Und mit ihnen die Frage, ob alle Bücher, die über Auschwitz geschrieben werden können, schon geschrieben sind. Oder ob es den Nachgeborenen erlaubt ist, den Faden der Erzählungen aufzunehmen und diesen dann in ein zwangsläufig fiktionales Netz zu verweben. Darf das sein?

Der israelische Autor Ron Segal, Jahrgang 1980, versucht mit seinem Prosadebüt Jeder Tag wie heute eine Antwort auf diese Frage zu geben. Er gibt eine Antwort, indem er den Versuch wagt und als einer aus der Enkelgeneration vom Überleben und Weiterleben eines Opfers des nationalsozialistischen Vernichtungswahns erzählt. Und eins sei schon vorab verraten: Ron Segals Antwort ist so überzeugend und reflektiert, dass man sich für einen Moment lang keine Sorgen mehr darüber macht, dass die Erinnerung an diese Zeit dem Vergessen oder dem Kitsch anheimfallen könnte.

Buch-Info


Ron Segal
Jeder Tag wie heute
Wallstein Verlag, Göttingen, 2012
140 Seiten, 17,90€
E-Book 13,99€

 

Jubiläum

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2015 feiert das von Thorsten Ahrend verantwortete Literaturprogramm des Wallstein Verlags sein 10-jähriges Jubiläum. Das belletristische Programm steht für anspruchsvolle und preisgekrönte Literatur aus den Bereichen Prosa, Lyrik, Dramatik und Essayistik. Ständig wird es durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren erweitert: Bücher von Lukas Bärfuss, Daniela Danz, Ralph Dutli, Dorothea Grünzweig, Maja Haderlap, Harald Hartung, Dea Loher, Sabine Peters, Teresa Präauer, Patrick Roth, Hendrik Rost, Gregor Sander, Ron Segal, Kai Weyand und Matthias Zschokke u.v.m. setzen deutliche Akzente auf die Gegenwartsliteratur. Im August und September gratuliert Litlog, indem es seinen Fokus auf aufgewählte Bücher des Literaturprogramms legt.

 
 

Zwischen Zombies und Gespenstern

Adam Schumacher heißt der Protagonist von Jeder Tag wie heute. Er ist Schriftsteller, 90 Jahre alt und lebt in Israel. Nach Deutschland, ins Land der Mörder zurück zu kehren, dagegen hat er sich immer gesträubt. Nun ist er doch gekommen, nach München, um in der Literaturzeitschrift seines alten Freundes Max Vérité sein Vermächtnis zu veröffentlichen, seine Erinnerungen. Die junge Redakteurin Eva soll ihm dabei behilflich sein. Doch bei einem Ausflug in die Jugendlichkeit, bei einem Tanz mit Eva in einem Nachtclub zu Halloween geschieht es und der alte Mann bricht zwischen den Zombies und Gespenstern zusammen und erleidet einen Schlaganfall.

Während Eva ihn im Krankenhaus pflegt, gibt Adam weiterhin seine Erinnerung zu Protokoll. Von seinem Überleben im KZ, von seinem Freund Max Vérité und immer wieder von seiner Frau, der berühmten Harfenistin, die bereits vor vielen Jahren sterben musste, nicht durch die Hand der Nazis, sondern durch die eines unbekannten Mörders, der sie mit einem von Adam verfassten Buch in ihrer israelischen Wohnung erschlug.

Doch etwas stimmt nicht mit den Erzählungen von Adam Schumacher. Sie passen nicht zusammen. Einmal will er Hitler 1906 als gescheiterten Kunstmaler in Wien getroffen haben, dennoch soll er bei der Machtübernahme 1933 noch ein Kind gewesen sein. Auch sein behandelnder Arzt merkt etwas. Die Jahreszahlen passen nicht, die verschiedenen Geschichten von Adam können unmöglich gleichzeitig wahr sein. Demenz wird vermutet. In Adams Erinnerung vermischt sich Erlebtes mit Erlebnissen von Freunden und Gelesenem.

Unzuverlässiges, dementes Erzählen

Was der Mediziner Demenz nennt, nennt die Literaturwissenschaftlerin in so einem Fall unzuverlässiges Erzählen. Ron Segals unzuverlässiger Erzähler ist die Projektionsfläche, auf der sich seine Sprechposition als Nachgeborener reflektieren lässt. Eine Sprechposition die gleichermaßen eine der Unzuverlässigkeit ist, wenn auch aus anderen Gründen. So werden auf geschickte Weise die Perspektive des dementen Erzählers und des nachgeborenen Autors übereinander gelegt, die beide versuchen, das Vergangene erzählbar zu machen. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn Segal seinen Adam Schumacher sagen lässt:

Ich werde die Ereignisse so schildern, wie sie mir geschehen sind, wie ich sie früher bereits erzählt habe, und eines wird den Beweis für meine Glaubwürdigkeit erbringen, falls mein über die Jahre erworbener guter Ruf nicht schon allein dafür bürgen sollte: Meine Geschichte ist konsequent. So wie sie hier erzählt wird, wurde sie früher erzählt, und der einzige Unterschied liegt in den Satzzeichen.

Eine Form des Erzählens entdeckt zu haben, in der die Fiktionalisierung, die Aneignung, das unzuverlässige Erzählen von der Schoah nicht für einen Moment anrüchig, vermessen oder obszön erscheint, das ist das große Verdienst von Ron Segals Roman. Und gleichzeitig findet sich im Roman noch viel mehr: Es ist die Geschichte einer großen Liebe, einer lebenslangen Freundschaft, eine Geschichte vom Altsein und Sterbenwollen. Denn es ist nicht nur die Veröffentlichung seiner Memoiren, die Adam Schumacher nach Mitteleuropa lockt, es ist auch eine Schweizer Sterbehilfeagentur.

Es ist eine unglaubliche Fülle, die Segal auf nicht einmal 140 Seiten verhandelt. Und vielleicht ist dies das einzige, was man dem Autor zur Last legen kann: Man könnte sich problemlos einen 500 Seiten starken Roman vorstellen, der diese Geschichten erzählt, diese Themen aufgreift, ohne geschwätzig zu werden. Wenn die Sache dann nach 140 Seiten schon vorbei ist, fühlt man sich als Leser schon fast ein wenig betrogen. Aber, und das ist die positive Seite daran: Wir dürfen gespannt sein auf das nächste Werk von Ron Segal. Er hat uns gezeigt, wozu er fähig ist.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 25. August 2015
 Kategorie: Belletristik
 Jewish museum, Berlin von mafate69 via Flickr
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