Publizistin Katja Lewina und Sexualaufklärerin Louisa Lorenz sprechen über die Essay-Sammlung Sie hat Bock. Im Schnelldurchlauf geben sie Einblicke in das Buch und tauschen sich über Lewinas Erfahrungen zum Thema Sex aus. Ein Erlebnisbericht gemischter Gefühle.
Von Pauline Höhlich
WAP. Was wie die Abkürzung eines Spezialeinsatzkommandos klingt, ist in Wahrheit der diesjährige Sommerhit der Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion (allein 273 Millionen Klicks auf YouTube) – in den Augen und Ohren mancher sollte wohl am liebsten genau ein solches zu seiner Abschaffung eingesetzt werden. Das Lied handelt von ihren wortwörtlich arschnassen Pussys (WAP steht für »Wet-Ass Pussy«) und erhitzt viele Gemüter. So setzt sich die deutsche Medienlandschaft intensiv mit diesem Phänomen auseinander, sprich mit Frauen, die so richtig Bock auf Sex haben und auch noch darüber rappen. SPIEGEL-Autor Tobias Rapp hält den Song für den »obszönsten Nummer-eins-Hit der Popgeschichte« und kommt nicht umhin, bereits im Teaser zum Text über besagten Song darauf hinzuweisen, dass Megan Thees »Freund ihr in den Fuß schoss«. Das scheint wichtig, in diesem Kontext zu erwähnen.
Joachim Henschel schreibt auf SZ.de, da keine Männer im Video-Clip zu sehen seien, sei es für männliche Betrachter kaum möglich, die inszenierte Nacktheit im Video auf sich zu beziehen.[1] Gut, die sieht man in Lesbenpornos auch nicht. Die BILD stellt sich die für dieses Blatt fast harmlose Frage, ob so der neue Feminismus aussehe und ist nicht allein mit dieser Unsicherheit. Die Debatten führen vor allem eines vor Augen: Während Gangster- und Porno-Rapper fröhlich über ihren (gewaltvollen) Sex mit den »Nutten«, »Schlampen«, »Fotzen« trällern, ist es für Frauen keine Selbstverständlichkeit, öffentlich über ihr Begehren zu sprechen.
Publizistin Katja Lewina tut es trotzdem. So im Buch mit dem titelgebenden Thema Sie hat Bock. Dort versammelt sie überarbeitete und erweiterte Beiträge aus ihrer jetzt-Kolumne Untenrum sowie weitere bisher nicht publizierte Geschichten und Abhandlungen. Grundlage der Texte sind meist ihre persönlichen Erfahrungen, die sie immer wieder mit gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft. Nun kam sie zum Jungen Herbst und redete mit Moderatorin und Geschlechterforscherin Louisa Lorenz im Alten Rathaus über – Sex.
Trotzdem ich digitale Veranstaltungen durch ihre flexible und preisgünstige Verfügbarkeit zu schätzen gelernt und so in den vergangenen Wochen als anregende Alternative zu Netflix und Co. den Literaturherbst ON AIR gebinged habe, nahm ich endlich auch dreidimensional an einer Lesung teil. Ich hatte Bock. Statt nebenbei die Wohnung zu streichen oder am Küchentisch Suppengemüse zu schnippeln, wurde die Suppe also hastig gelöffelt und sich anschließend auf den Weg zum prunkvollen Saal des Alten Rathauses gemacht. Dort war ich gegenüber der nun schon gewohnten Kamera-Perspektive aus erster Reihe eher semi-zufrieden.
Nach erfrischend ehrlich, weil froh gestimmten Worten der Veranstaltungsorganisatorin über das glückliche Timing des Literatur-Festivals, pünktlich zum zweiten bundesweiten Lockdown ohnehin vorüber zu sein, begannen die Frauen des Abends ihr Gespräch. Für mich als Brillenträgerin stellte sich derweil ein weiteres Ärgernis ein, das die Lesung über andauerte. Louisa Lorenz und Katja Lewina waren mit jedem Atemzug vernebelt. Luftanhalten war nur eine Lösung von kurzer Dauer und unter der Maske ist Sauerstoff ohnehin knapp. Nach zwanzig Minuten wurden dann Corona-konform die Türen zum Aerosol-Austausch geöffnet, unglücklicherweise über den Großteil des Abends jedoch nicht mehr geschlossen, was mein Problem – heißer Atem auf zu kalten Brillengläsern – nicht gerade minderte und außerdem äußerst ungemütlich war.
Stichwort: SexZu Beginn interessierte Moderatorin Lorenz, weshalb Lewina mit Anfang 20 der Meinung gewesen war, Feminismus sei obsolet, um etwa zehn Jahre später in Sie hat Bock über (weibliche) Sexualität zu schreiben. Die Antwort Lewinas ist keine überraschende: Mit der Geburt ihrer Kinder hätte sich zwischen ihr und ihrem Mann nach einer gleichberechtigten eine gänzlich traditionelle Arbeitsteilung eingestellt. Ein weiterer »Dominostein« sei gefallen, als Lewina und ihr Mann ihre Beziehung geöffnet hätten und dieser Schritt ihr die vielen Konventionen der Liebe vor Augen geführt habe. (Interessant! Und welche?) Nächste Frage: Wie es Lewina damit gehe, derartig persönlich über ein »so tabuisiertes Thema« wie Sexualität zu schreiben. Die Autorin »liebe das sehr«, doch es habe auch Momente gegeben, in denen sie gezweifelt habe, ob sie »das jetzt wirklich so schreiben« und mit der »ganzen Welt« teilen könne. Letztlich sei Lewina aber eine »große Freundin« davon, Dinge auszusprechen. Über Scham und Peinlichkeit zu reden, mache frei und tue gut. Gesagt, getan. Perfekte Überleitung, um aus ihrem Buch zu lesen, findet Louisa Lorenz. »Jajajaja, ich lese vor«, entgegnet Lewina derartig hastig und pflichtbewusst, dass man sich als Zuhörer:in irritiert fragte, was die Alternative wäre, schließlich war dies doch Sinn und Zweck dieser Versammlung.
Im Galopp durch Sie hat Bock
Die letzte halbe Stunde des knapp siebzig-minütigen Abend liest Katja Lewina nicht mehr aus ihrem Buch, was durchaus schade ist. Was könnte einen besseren Eindruck von ihrem Buch bieten als gelesene Zeilen aus ihrem Buch? Stattdessen arbeiten sich Lorenz und Lewina an der Frage ab, ob Frauen nun weniger Lust auf Sex hätten als Männer oder nicht – Stimmen im Bekanntenkreis der beiden würden die vergleichsweise weibliche Unlust von Frauen nämlich tatsächlich bestätigen. Lewina benennt zunächst zwar die »darunter liegende Wahrheit«, also gesellschaftliche Narrative, die Frauen beharrlich daran erinnern, ihre Jungfräulichkeit für »den Richtigen« aufzuheben und sparsam mit ihrer Sexualität umzugehen, während Prostituierte wortwörtlich »Huren« seien und Frauen, die einen Ausschnitt / zu kurzen Rock tragen / zu viele Partner oder Ehemänner haben als »Schlampen« gelten. Lewina wollte und will sich von derartigen Stimmen nicht unterdrücken lassen, öffentlich darüber zu schreiben sei der letzte Befreiungsschlag schlechthin. Doch ist es so einfach? Was heißt es, sexuell frei zu sein und wovon eigentlich? Sind Frauen frei, wenn sie ihre Sexualität öffentlich leben und darüber sprechen, aber online deswegen angefeindet und bedroht werden?
Ein Gespräch unter FreundinnenAls Lorenz Lewina nach dem ebenfalls im Buch behandelten Umstand befragt, dass es für Lewinas Mann wesentlich schwieriger sei, Sexualpartnerinnen außerhalb der Beziehung zu finden, während umgekehrt Lewina keinerlei Probleme hätte, Männer kennenzulernen. Im Gegenteil, »alle« Männer fänden Frauen in offenen Beziehungen als einmalige Bekanntschaften »total geil«, weil diese keine weiteren Verpflichtungen zu erwarten ließen. Laut der Autorin berichteten ihr alle Paare in offenen Beziehungen von dieser Diskrepanz.
Zwar stuft Lewina »Männer als Beziehungsverweigerer« und »Frauen möchten gerne Kinderkriegen« als »Narrative der Geschlechter« ein. Doch sie nutzt sie zugleich als Erklärungen für ihre eigene empirische Beobachtung, droht damit ins Klischee abzudriften und somit diese letztlich zu reproduzieren anstatt sie zu dekonstruieren. Die Narrative bleiben so unhinterfragt als reale Tatsachen bestehen, während mögliche dahinter verborgende Normen und Zwänge nicht weiter thematisiert werden. Dafür scheint keine Zeit zu sein, denn es wird sich schon wieder dem nächsten Thema gewidmet. Immer wieder wirkt es, als würden Lorenz und Lewina möglichst viel aus der durchaus umfangreichen Palette an Themen in Sie hat Bock an diesem Abend unterbringen wollen. Sie hetzen von einem Stichwort zum nächsten und kratzen dabei oftmals nur an dessen Oberfläche, anstatt die penetranten Strukturen bei ihren Eiern zu packen (nicht wortwörtlich gemeint). Das ist insofern schade, weil Sie hat Bock durchaus tiefer geht und mehr Komplexität beweist. Auch die spannenden, weil vielschichtigen und komplizierten Zusammenhänge gehen unter. Etwa, dass frau nicht nur vortäuscht, sondern weniger Orgasmen hat, weil in einer penisfixierten Gesellschaft nicht nur sie selbst zu wenig über ihren Körper weiß, sondern auch ihr cis-männlicher Sexualpartner die gegengeschlechtliche Anatomie schlicht nicht kennt und nicht richtig damit umzugehen weiß.
Reden über Sex als feministische Praxis
Doch Reden über Sex ist feministische Praxis und dieser Umstand ist durchaus eine Thematisierung wert, eben um sie von einem privaten Gespräch unter Freund:innen abzugrenzen. Oder anders gesagt: Gerade der Umstand, dass der ehrliche und somit nackte Austausch über Sexualität im Privaten wie im Öffentlichen und selbst unter Liebenden keine Selbstverständlichkeit ist, füllt überhaupt Säle wie das Alte Rathaus; bringt Menschen dazu, Sie hat Bock zu lesen. Dahinter verbirgt sich mehr als ein schwammiges »Tabu«, denn Sex ist längst eine Milliardenindustrie und zumindest in diesem Kontext ziemlich sichtbar. Über diese komplizierte und zu dekonstruierende Vielschichtigkeit, Macht und die Doppelmoral zwischen Frau als Sexobjekt versus Sexsubjekt gilt es zukünftig noch viel zu diskutieren, insbesondere in Anbetracht sich rasend schnell entwickelnder neuer digitaler Möglichkeiten und Gefahren.
Bock sei mit dir!Für Teilnehmende, die sich schon länger mit aktueller weiblicher Sexualität, ihrer historischen Tradierung und neuen Facetten des 21. Jahrhunderts (z.B. digitale Gewalt) auseinandergesetzt, derartige Gespräche geführt und die entsprechende Literatur gelesen haben, wird dieser Abend kaum neue Erkenntnisse gebracht haben. Für alle anderen mit Sicherheit schon. Wie gesagt: Über (weibliche) Sexualität gibt es noch viel zu schreiben, lesen, rappen, hören, sehen und was unsere Sinne sonst noch alles ermöglichen. Die Veranstaltung zu Sie hat Bock trägt ihren Teil dazu bei und gestaltet sich alles in allem als ein spannender Kontrast zwischen dem historisch-verstaubten Ambiente und schambefreiender Direktheit vor versammelter Menge. Am Ende bekomme ich im Unterschied zu den gestreamten Lesungen und Diskussion eine Widmung: »Möge dein Bock immer mit dir sein!« Amen.
[1] Ich als weibliche Betrachterin habe hinter dem Bildschirm vielmehr den Eindruck, den s.g. male gaze einzunehmen, also den kulturgeprägten dominanten männlichen Blick auf Frauenkörper und Sexualität. Was die schwer beantwortbare Frage aufwirft, wie weibliches Begehren überhaupt unabhängig davon aussehen könnte.