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Neuauflage
Carver uncut

Raymond Carver war ein lakonischer, minimalistischer Autor, der überaus einnehmend von einfachen Leuten erzählte. Viele seiner Geschichten wurden durch seinen Lektor ›kontaminiert‹. Nun liegt erstmals eine ›gereinigte‹ Fassung der Beginners vor, die Carver als Autor hervorhebt.

Von Bastian Denker

Im Jahre 1981 gelang dem amerikanischen Autor Raymond Carver mit der Kurzgeschichtensammlung What We Talk About When We Talk About Love der literarische Durchbruch. Kurz nach Erscheinen des Buches wurde bekannt, dass Carvers Lektor, Gordon Lish, Eingriffe innerhalb der Texte vorgenommen hatte. Eingriffe, die das gewöhnliche Maß an Überarbeitung erheblich überstiegen. Weit nach Carvers Tod 1988 erschien 2009 die ungekürzte Originalfassung unter dem ursprünglichen, von Carver präferierten Titel Beginners. Nun liegen beide Versionen, seit 2012 auch auf Deutsch, quasi nebeneinander vor. Spannend ist abgesehen von den Erzählungen selbst, vor allem das Nachwort, das aus Anmerkungen der Herausgeber, als auch einem Teil des Briefwechsels zwischen Autor und Lektor besteht.

Beginn einer Freundschaft

Als Carver seinen späteren Lektor 1967 kennenlernte, waren seine Lebensumstände in etwa das, was gemeinhin als prekär bezeichnet wird. Lish aber sorgte dafür, dass Carvers erste Kurzgeschichtensammlung Would You Please Be Quiet, Please? beim McGraw-Hill Verlag erscheinen konnte. In einem Brief schrieb Carver 1974 an seinen Lektor: »Ich bin einfach begeistert, dass eine Sammlung mit Geschichten herauskommt & von jetzt an, Bruder, von jetzt an werde ich die Welt im Sturm erobern, glaube mir«. Auch noch drei Jahre später schreibt er: »Du, mein Freund, bist für mich der ideale Leser.« Nachdem Lish vom Esquire zum Alfred Knopf Verlag gewechselt war, verschaffte er Carver einen Vertrag für den nächsten Erzählband und zudem verschiedene Lehraufträge und Stipendien, die der verarmte Carver dankbar annahm. Kurz vor der Veröffentlichung von Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden schreibt Carver noch in vollem Vertrauen gegenüber seinem Freund am 10. Mai 1980: »Hab um Himmels willen keine Skrupel, den Bleistift zu zücken, wenn du an den Geschichten noch etwas verbessern kannst, und wenn das jemand kann, dann du.«

Buch


Raymond Carver
Beginners. Uncut – Die Originalversion
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
361 Seiten, 21,99 €

 
 
Carver ist vor allem berühmt geworden für seine minimalistischen, mit lakonischem Sound versehenen Geschichten, die sich oftmals um Beziehungsprobleme, Existenznöte und Ängste einfacher Menschen aus unteren sozialen Schichten drehen und Paradebeispiele für den nicht vorhandenen »amerikanischen Traum« sind. Aber wie minimalistisch, wie lakonisch war der Autor Carver selbst?

Der Lektor als (Mit-)Autor

Symptomatisch für die radikalen Eingriffe Lishs ist die Kurzgeschichte Ein kleiner Segen, die in der gekürzten Fassung noch den Titel Das Bad trägt. Während Das Bad einen Umfang von knappen neuneinhalb Seiten aufweist, kommt Ein kleiner Segen mit der Länge von 41 Seiten daher. Aber Lish kürzte nicht nur Sätze, sondern strich vielmehr ganze Passagen heraus, stellte Sätze um und entfernte den kompletten Schluss.

Ein kleiner Segen handelt von zwei Eheleuten, deren Sohn an seinem Geburtstag von einem Auto angefahren wird und anschließend im Krankenhaus im Koma liegt. Es geht um das Hoffen und Bangen und darum, dass die Familie eigentlich nie an diesen Ort hatte ziehen wollen. Die Mutter, die zuvor eine Geburtstagstorte beim Bäcker bestellt hat, erhält ständig Telefonanrufe von diesem, hat aber durch den Schock die Torte wieder völlig vergessen. Mit dem Bäcker, der weder seinen Namen noch sein Anliegen nennt, endet die Geschichte in der Version von Lish. Der Leser erfährt weder, ob der kleine Junge tot ist, noch wer überhaupt der Anrufer war. In der originalen Fassung Carvers stirbt der Junge. Hier klärt sich das Missverständnis am Ende auf und die Eltern essen zusammen mit dem Bäcker, beinahe Gleichnishaft, Zimtschnecken.

Bei einer »Gegenüberstellung« beider Fassungen scheint es fast so, als ob Lish alles Menschliche herausgestrichen hat. Vor allem die Beschreibungen und das Ausschmücken der Personen – in erster Linie der Randfiguren – in Das Bad fallen erheblich schlichter aus. In Ein kleiner Segen wird ihnen hingegen nicht nur eine kurze Skizzierung, sondern eine eigene Gedanken- und Gefühlswelt zugesprochen. Lish kürzte an vielen Stellen so radikal, dass er eine funkelnde Lakonie erschaffte, die aber gleichzeitig Einbußen bezüglich des Inhalts mit sich brachte. Dies macht die Geschichten in ihrer Substanz um vieles ärmer und hat unsagbare Verluste in der Komplexität ihrer Figuren zur Folge. Hierbei handelt es sich um keinen Einzelfall. Die ungekürzte Fassung des Buches ist beinahe doppelt so lang wie die von Lish gestutzte Variante.

Die Aura des Originals

Am 8. Juli 1980, nachdem Carver zum ersten Mal das Ausmaß der Kürzungen zu Gesicht bekam, schreibt er seinem Lektor einen verzweifelten Brief, in dem er ihn anfleht, die Änderungen zurückzunehmen. Seine Dankbarkeit gegenüber Lish, der ihm zu einem Leben verholfen hatte, das nicht länger von Geldsorgen geprägt war, spiegelt sich in einem vier Seiten langen Brief wider und wirkt dabei in Teilen geradezu devot. Aus der Angst heraus schreibt Carver: »(…) ich habe das Gefühl, wenn das Buch in seiner derzeitigen, bearbeiteten Form veröffentlicht wird, werde ich vielleicht nie wieder eine Geschichte schreiben«. Problematisch war vor allem, dass Carver den Vertrag für das Buch unterschrieb, noch bevor er es überhaupt in der lektorierten Fassung gelesen hatte. Knapp vier Tage nach dem alarmierenden Brief verwirft er fast alle Bedenken: »Ich bin begeistert von dem Buch und davon, dass es jetzt bald erscheint.« Woher der Sinneswandel kommt, ist dem Briefwechsel nicht zu entnehmen. Letztendlich erschien das Buch im April 1981 bei Alfred Knopf in der von Gordon Lish gekürzten Fassung.

Mit Beginners ist nun ein Buch erschienen, das sich nicht nur in seinen Titeln, dem Ausgang der Geschichten sowie in der Darstellung ihrer Charaktere von der von Lish lektorierten Fassung unterscheidet, sondern das durch eine Sprache geprägt ist, die zwar zum Teil weniger lakonisch daher kommt, dennoch aber in keiner Weise weder etwas von ihrer Qualität noch von ihrer Einzigartigkeit verliert. Gordon Lish hat einen Carver erschaffen, der zwar härter, moderner und minimalistischer war, jedoch die Geschichten um Komplexität und Menschlichkeit beraubt und dem Leser letztendlich die bessere Version vorenthält. Die Originalfassung hebt einen Autor hervor, der nichts an stilistischer Raffinesse einbüßt, sondern das betont, was Carver auch in seinen späteren Erzählungen als besonders markiert, nämlich die Fähigkeit, in der vermeintlichen Banalität des Alltags die Dinge mit einer Wahrhaftigkeit darzustellen, die schlichtweg begeistert. Ob der Autor auch ohne die Eingriffe seines Lektors zu solch frühem Ruhm gekommen wäre, lässt sich im Nachhinein schwer beantworten.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 28. Juli 2015
 Kategorie: Belletristik
 Raymond Carver von Anthony Easton via Flickr
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