Die Frage, warum gerade Europa die Welt eroberte, ist nie zufriedenstellend beantwortet worden, konstatiert Philip T. Hoffman, Professor für Wirtschaft und Geschichte am California Institute of Technology. Er geht der Überlegung mit hoher Faktendichte und mathematischen Analysen auf den Grund. Doch welche Erkenntnisse bringt das?
Von Johanna Karch
Zwischen 1492 und 1914 eroberten die europäischen Staaten 84 Prozent des Weltterritoriums. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass Hegemonialmächte wie China und das Osmanische Reich mit riesigen Territorien und einem enormen Wissensvorsprung vom »Flickenteppich Europa« abgehängt werden konnten? GeschichtswissenschaftlerInnen und SoziologInnen treibt diese Frage seit jeher um, aber nie sei es zu einer befriedigenden Antwort gekommen, konstatiert Philip T. Hoffman, Professor für Wirtschaft und Geschichte am California Institute of Technology. In seinem Buch Wie Europa die Welt eroberte bringt der Autor neue Aspekte in die Diskussion ein, die auf auf belastbaren Fakten beruhen.
Learning by Doing als Long-Term StrategieZu Beginn des Buches werden herkömmliche Thesen auf den Prüfstand gestellt. Die Industrialisierung oder die Immunität gegen Krankheiten, wie sie der Biologe Jared Diamond 1977 in Guns, Germs and Steel ins Feld führte, seien keine hinreichenden Erklärungen für den Imperialismus Europas. Hoffman zeigt auf, dass Europa vielmehr durch wirtschaftliche, politische und geschichtliche Veränderungen einen besonderen, »europäischen« Entwicklungspfad einschlug. Dieser fuße auf einem militärischen Turniermodell, das durch die europäische Kleinstaaterei der Frühen Neuzeit bedingt wurde und eine Kultur der Innovation und Rivalität beflügelte. Das Schwarzpulver wurde zwar in China erfunden, zur Anwendungsreife brachten es aber Europäer. Das ständige Learning by Doing ermöglichte ihnen, die Waffentechnologie fortwährend weiterzuentwickeln. Eine stetige Verbesserung der Artillerie, der Feuerwaffen, der bewaffneten Schiffe und Festungen war die Folge. Auch das politische Lernen hatte einen besonderen Stellenwert. Die Kriegsführung wurde in allen frühen modernen Staaten Westeuropas zur obersten Priorität. Und das aus gutem Grund, wie Hoffman anhand von Zahlen eindrücklich beweist. Die europäischen Großmächte1 befanden sich zwischen 1550-1600 ganze 71 Prozent der Zeit im Kriegszustand. Das spiegelt zum Beispiel der Haushalt wider: Kriege fraßen den Großteil der Steuereinnahmen auf. So flossen 40-80 Prozent der öffentlichen Einnahmen zur Zeit Ludwigs des XIV direkt ins Militär oder die Kriegsflotte. Dass sich das auszahlte, zeigen weitere Zahlen: Die Investition in die Kriegserprobung von Schusswaffentechnologie erhöhte sowohl die Produktivität – gemessen an Schüssen pro Minute pro Infanterist – als auch die Tödlichkeit der Waffen. Auch die Büchsenmacher erkannten den Vorteil des Learning by Doing. Aus einer Zunft entwickelte sich durch ständiges Ausprobieren und Weiterentwickeln eine machtvolle Waffenindustrie. Damit wurden Waffen immer kostengünstiger, was ihre Zugänglichkeit entsprechend erhöhte.
Den Zustand des Flickenteppichs wollten die meisten europäischen Kleinstaaten überwinden. Ironischerweise führte aber gerade das Scheitern einer »Europäischen Union«, wie sie u.a. Karl der Große im Sinn hatte, dazu, dass sich das Turniermodell und die Mentalität der Rivalität überhaupt erst entwickeln konnte. China, das stets eine zentralistisch geführte Großmacht war, verfügte durch seine weitestgehend homogene Bevölkerung weder über ein Turniermodell, noch über eine ausgeprägte Rivalitätenkultur. Zudem beeinflusste die pazifistische Philosophie Konfuzius´ das Leben der Menschen in Asien. Hätte Europa es geschafft, seine vielen kleinen Gebiete unter einem Hegemon zu vereinen, hätte es die Entwicklung eines Turniermodells wahrscheinlich nicht gegeben. So entsandten einzelne europäische Staaten Privatleute, um neue Gebiete zu erobern oder Stellungskriege zu führen. Die Entwicklung dieses starken und in gewissem Maße eigenständig agierenden Unternehmer- und Söldnertums, das durch Anreize wie Land- und Ressourcengewinnung auf eigene Faust die Welt entdecken konnte, ist, das unterstreicht Hoffman, zentral organisierten Staatssystemen haushoch überlegen, Chinas behäbiger Staatsapparat hingegen schränkte die Flexibilität von Eroberungsfahrten und Gebietserkundungen eher ein.
Erkenntnisgewinn untermauertHoffman fördert keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse zutage, er eröffnet aber eine faktenreiche, komparatistische Sichtweise auf die Militärgeschichte(n) der Welt. Und der Frage, warum Europa die Welt eroberte, nachzugehen, lohnt sich immer. Nicht zuletzt haben Europas Herrscher von gestern bestimmt, wer Kolonien besaß, wer den Sklavenhandel kontrollierte, wer reich wurde und wer arm blieb – Determinismen, die bis dato in die Strukturen unserer Gesellschaften eingeschrieben sind. Vom ökonomischen bis zum symbolischen Kapital: Bis heute sitzt zuvörderst der ›weiße Mann‹ auf den Reichtümern der Erde. Jedoch wird die Frage, wie Europa die Welt eroberte, im hier besprochenen Buch nicht kolonial- oder kulturkritisch, sondern wirtschaftstheoretisch-mathematisch beleuchtet. Manchmal wirkt das etwas umständlich, z.B. wenn anhand einer Strohhalm-Losung die Wahrscheinlichkeit von Innovations- und somit Erkenntnisgewinn durch Militärinvestitionen veranschaulicht wird. Je mehr Geld investiert wird, desto mehr Versuche gibt es, Neues zu entdecken. Ob es an dieser Stelle einen ökonomischen Exkurs braucht, sei dahingestellt. Vielerorts sind geschichtswissenschaftliche und mathematische Vertiefungen aber durchaus ein Zugewinn und machen letztlich den Mehrwert des Buches aus. Dass kulturelle Implikationen wie die Pflege einer menschenverachtenden Herrenrassen-Mentalität den Imperialismus befeuerten, wird allerdings nur am Rande verhandelt. Kritisieren muss man das nicht. Letztlich bleibt Hoffman in seinem Fachbereich und untermauert das, was er untersucht, mit profunden Daten. Auch bekanntes Wissen mit aussagekräftigen Daten zu stützen, darf als Erkenntnisgewinnung gewertet werden.