Ein Härtetest für Terror-Azubis, eine Truppe von Trittbrettfahrern und eine selbstgefällige Söldnerin: Juli Zehs Leere Herzen ist voller Ideenreichtum und raffinierter Erzählkunst. Einziges Ärgernis: Ihr Umgang mit dem Sieg der besorgten Bürger wirkt heillos naiv.
Von Stefan Walfort
Es gibt Leute, die verhalten sich so, als ob ihre Eltern sie wie Bowlingkugeln in Bahnen geworfen hätten. Auf dem Weg zum vorbestimmten Ziel trauen sie sich kaum, aus der Spur zu driften, nach einem Standpunkt zu suchen, zu verschnaufen, in sich zu gehen. Britta Söldner, die Hauptfigur, aus deren Perspektive sich das Geschehen in Juli Zehs neuem Roman darbietet, ist so ein Bowlingkugelmensch: »eine Frau ohne Laster oder Leidenschaften, die in Maßen isst, in Maßen liebt, in Maßen Sport treibt. Gelebter Durchschnitt, und so wird es weitergehen, ein auf gerader Linie gelebtes Leben, bis zum Schluss.« So sieht sie sich selbst. Gleichzeitig trieft ihr die Selbstgefälligkeit aus allen Poren. Ihre Weltsicht bevölkern Metaphern vom Großreinemachen, zu dem sie sich berufen fühlt ‒ zugunsten einer organischen Volksmasse. Getreu ihres sprechenden Namens denkt sie in Strukturen von Befehl und Gehorsam und schert sich meist wenig darum, ob irgendwer darunter leidet. »Funktionieren ist für Britta das oberste Gesetz«, so heißt es unmissverständlich. Genauso schaut das aus, was Hannah Arendt einst mit der »Banalität des Bösen« gemeint hat.1 Doch so wird Britta nicht bleiben. Denn ihr Alltag gerät aus den Fugen. Bis dahin empfindet sie ihn als eintönig, obwohl sie eine als Heilpraktiker-Praxis getarnte Agentur zur Vermittlung von Suizid-Attentätern betreibt.
Gemeinsam mit ihrem Partner Babak und einem »hochintelligent[en], selbstlernend[en], perfekt dressiert[en]« Algorithmus, genannt Lassie, durchschnüffelt sie das Internet auf der Suche nach Lebensüberdrüssigen. Deren Wunsch, ins Gras zu beißen, darf nicht nur auf einer vorübergehenden Laune fußen. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, unterziehen Britta und Babak alle Kandidaten einem 12-stufigen Test. Neben selbstverletzendem Verhalten und Kontaktabbrüchen zu sämtlichen geliebten Personen sieht er einen Psychiatrieaufenthalt einschließlich der Teilnahme an allen für suizidale Patienten festgelegten Therapien vor. Nur wer danach noch immer in seinem Todeswunsch beständig bleibt, kann von professionellen Terroristen als Waffe benutzt werden. Mit derlei Profis arbeiten Britta und Babak so lange reibungslos zusammen, bis einer ihrer Ausselektierten eine Truppe von Trittbrettfahrern um sich schart. Durch einen medienwirksamen Anschlag stürzen sie Brittas intakt geglaubte Welt ins Chaos. An den folgenden Tagen erlebt sie allerlei Rätselhaftes: Aus der Praxis kommen vertrauliche Daten abhanden. Ein Unbekannter lauert ihr auf. Eine spektakuläre Flucht ist die unausweichliche Folge.
Trotz 350 Seiten konsequent steigenden Spannungsniveaus ist sich das Gros der Literaturkritik in Sachen Schelte ziemlich einig: Die ZEIT verleiht das Attribut »literarisch uninspiriert«. Die FAZ urteilt: »[m]ehr als gute Unterhaltung ist das aber nicht«. Und in der Süddeutschen poltert es: »Wenn nur die Poesie in diesem Roman nicht wäre!« Dabei ließe sich der Autorin so manches vorwerfen ‒ dass sie zu anspruchslos erzähle aber gewiss nicht. Schon die Wahl des Präsens ist genial verunsichernd, weil sich längst nicht so leicht wie im Präteritum voneinander abgrenzen lässt, was zum Bericht der Erzählinstanz gehört und was zur Innensicht Brittas, an der die Lesenden des Öfteren via erlebter Rede2 unmittelbar teilhaben. Oder wenn Britta auf eine Waterbording-Simulation zurückblickt, liefert die Autorin ganz großes Kino. Bevor Britta das Prozedere als Stufe 6 des Tests für die Terror-Azubis etablierte, hatte sie es an sich selbst ausprobiert. Auf wenigen Seiten entfalten sich alle nur denkbaren Facetten der Panik, die nötig war, um Britta binnen weniger als 60 Sekunden in ein bibberndes und um sich schlagendes Elend zu verwandeln.
Hätte sich Juli Zeh mit der Binnenerzählung über Britta und deren Praxis begnügt, so könnte das Ganze als meisterhaft gestalteter Thriller gelten. Ihn einzubetten in eine Dystopie über die Zeit nach einem Wahlsieg der BBB, der »Besorgte-Bürger«-Bewegung, ist jedoch auf die vorliegende Weise ein Ärgernis: Nach wie vor herrscht ein erstaunlicher Pluralismus. »Amnesty-Aktivisten« können Flyer verteilen, ohne dafür Repressalien einstecken zu müssen. Punks können sich unbehelligt in der Fußgängerzone niederlassen ‒ Menschen, denen schon gegenwärtig, also diesseits der Dystopie, überall dort, wo neue Nazis den Ton angeben, Lebensgefahr droht. Klar, es gibt das »Kulturfestival ›Volk rockt‹«; das mieft schon vom Namen her nach Exklusion. Zugegeben, die Presse überzieht als Beitrag zur Gleichschaltung einen Bonner Stadtteil mit Spott, weil sich die dortigen Buchläden mit Koran-Ausgaben bei Muslimen anbiedern. Und ja, auch die Existenz einer »Bundeszentrale für Leitkultur« sowie Pläne, eine »Sonderabgabe für in Deutschland beschäftigte Ausländer« durchzusetzen, verheißen nichts Gutes.
Eine Zukunftsvision, die verharmlostDoch von Gewalt gegen Minderheiten ist in Leere Herzen an keiner Stelle die Rede. Wird das Wesen der neuen Nazis dadurch nicht fundamental verkannt? Verharmlost der Roman nicht deren Willen, mit ihren Gegnern so umzuspringen wie zwischen 1933 und 1945? In der direkten Nachbarschaft Deutschlands lässt sich gerade beobachten, wozu es Teile des von Sebastian Kurz in Amt und Würden gebrachten Gruselkabinetts drängt: Sein Innenminister Herbert Kickl sorgte neulich mit der Idee, Geflüchtete in Lagern zu »konzentrieren«, für Schlagzeilen. An seinen Worten gibt es nichts fehlzuinterpretieren; seine Dementi sind als Teil der bekannten neurechten Strategie zu werten. Kettenhunde wie Kickl hält die womöglich als Totengräber der österreichischen Demokratie in die Geschichte eingehende ÖVP schon jetzt nur mehr schlecht als recht in Schach. Doch wehe, wenn sie erst losgelassen sind. Dann wird die Bedrohung wesentlich konkreter sein als in der Zukunftsvision, wie Juli Zeh sie umreißt. Dank ihres erzählerischen Know-hows lässt sich der Blick über Brittas Schultern alles in allem dennoch genießen.