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Essayreihe »SPOILER«
Das Einüben des Fürchtens

Als Zustand beim Lesen ist Angespanntheit ein gleichzeitig physisches wie psychisches Phänomen und steht damit im direkten Zusammenhang mit der Emotionsforschung. Im dritten Teil der Reihe SPOILER versuchen wir, uns dem Paradox der Spannung unter Zuhilfenahme evolutionspsychologischer und kognitionswissenschaftlicher Theorien anzunähern.

Von Carina Lefeber

Viel zu kurz kommt in der Forschung die Überlegung, was Spannung eigentlich ist – ein Zustand des Rezipienten, der während der Lektüre ein Konglomerat an Emotionen, körperlichen Reaktionen und Verhaltensdispositionen erlebt. Katja Mellmann bezeichnet Spannung als »ein Ensemble bestimmter physisch-behavioraler Begleiterscheinungen verschiedener Emotionen«1 – ein Phänomen, das jeder Leser kennt. Beim Lesen spannender Episoden wird die Atmung unregelmäßig, die Aufmerksamkeit und die Schmerztoleranzgrenze wüerden herauf-, die Schläfrigkeit herabgesetzt; der Körper wird motorisch aktiviert. Stärker als die motorische scheint aber die kognitive Aktivierung zu sein. Die Verbindung von abwartendem Verhalten und hoher Aufmerksamkeit erzeugt Stress. Das, was wir in spannenden Episoden einer Lektüre oder eines Films erleben, entspricht dem, was uns evolutionsbiologisch schon vor Tausenden von Jahren einen Vorteil brachte, wenn wir in Lebensgefahr schwebten oder sich ein Feind näherte. In einer solchen Situation springt der sogenannte Situationsdetektor an, der unseren Atem stocken lässt, um die Aufmerksamkeit des Feindes nicht auf uns zu lenken2.

Lebensgefahr und eine mögliche Feindanwesenheit versetzen uns aber nicht nur in einen wortwörtlich angespannten Zustand, der es uns ermöglicht, durch die erhöhte Aufmerksamkeit die Situation bestmöglich einzuschätzen und unter anderem durch angespannte Muskeln fluchtbereit zu sein – auch die Angst ist ein zentraler Aspekt in diesen Situationen. Nach Mellmann besteht Spannung aus »stark aktivierenden, aber nicht in Handlung resultierenden Emotionen (Stressemotionen) mit prototypischem Zentrum bei Furcht (mit den Situationsbedingungen ›Gefahr für Leib und Leben‹ und/oder ›mögliche Feindanwesenheit‹)«3. Das Erleben von Spannung und Angst scheint demnach eng miteinander verbunden zu sein. Folgt man dieser Annahme, ist es problematisch, wie Yanal Spannung und Angst klar voneinander zu unterscheiden und davon auszugehen, dass Mehrfachrezipienten lediglich Furcht vor einer möglichen Gefahr, jedoch keine Spannung empfinden.

Reihe

Warum es entgegen weitläufiger Meinung den Lesegenuss nicht mindert, den Handlungsausgang einer spannenden Geschichte im Vorfeld zu kennen, verrät Carina Lefeber in ihrer Essayreihe SPOILER. Sie deckt Irrwege und Sackgassen der Spannungsforschung auf und zeichnet die Erweiterung der Forschung um kognitionswissenschaftliche und evolutionspsychologische Überlegungen nach, um aus dem sogenannten Paradox der Spannung neue Erkenntnisse für die Spannungsforschung zu gewinnen.

 

Autorin

Carina Lefeber studiert Gegenwartsliteratur und Filmwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Aus ihrem Frust über die auf das Werk beschränkte Textwissenschaft erwuchs ihre Spezialisierung auf die Rezeption und den Konsumenten von Kunst. Ihr Credo: the magic happens in the readers mind. Ohne Leser gibt es für sie keine Geschichten, sondern nur Papier und Schrift.

 
 
Warum auch bei Lesern und Filmzuschauern spannungserzeugende Emotionsprogramme aktiviert werden, obwohl sie sich bei der Rezeption in keiner tatsächlichen Gefahr befinden, liegt nach Mellmann darin begründet, dass Bücher und Filme wie eine Attrappe wirken können. Um jede potentielle Gefahr zu erkennen, würden insbesondere Furchtemotionen relativ leicht ausgelöst, so auch lediglich beim Gedanken an Gefahr oder bei fiktionalen Furchtreizen. Dies deckt sich mit Carrolls Annahme, die davon ausgeht, dass der Rezipient schon beim Gedanken an mögliche Handlungsverläufe Spannung empfindet. Wenn der Leser daran denkt, dass Voldemort Harry tötet, springt der sogenannte Situationsdetektor für ›Gefahr für Leib und Leben‹ an, sodass das Ensemble an Emotionen, die Spannung ausmachen, aktiviert wird. Somit übe der Körper Emotionen für den Ernstfall, ohne sich realer Gefahr auszusetzen.
Durch die enge Verknüpfung von Furcht und Spannungsempfinden scheint es unumgänglich, sich zunächst der Erzeugung von Angst zu widmen. Der Leser hat Angst vor Bösewichten wie Voldemort. Doch um wessen Leib und Leben fürchtet sich der Leser eigentlich? Hat er Angst um sich selbst, um das Leben der Figur oder fürchtet er sich stellvertretend für die Figur und spiegelt sozusagen ihre Gefühle?

Nach Mellmann fürchtet sich der Leser in solch einer Situation vor der Gefahr an sich4. Voldemort ist das Reizobjekt und löst Furcht beim Rezipienten aus – entweder durch die durch das Lesen angeregte Phantasie oder die filmische Darstellung des düsteren, schlangenäugigen, bleichen Zauberers, mitunter verstärkt von unheimlicher Musik. Angst um eine Figur setzt Mellmann mit Empathie für sie gleich, ohne dies allerdings näher zu erklären. Eine Begründung fehlt auch für die Annahme, dass der Leser nicht die gleichen Emotionen wie die Figuren empfinden und sich nur stellvertretend für Harry fürchten kann. Hier bleibt der Ansatz etwas einseitig, wenn Angst durch Rezeption lediglich aus sich vor etwas fürchten besteht.

Spiegelneuronen, Theory of Mind und die Erzeugung von Rezipientenemotionen

Sowohl in der Emotionspsychologie als auch der Literaturwissenschaft gilt die Identifikation des Lesers mit den Figuren und ihrem emotionalen Zustand als ein primärer Auslöser für Emotionen während des Leseprozesses. Leser können verschiedene Haltungen gegenüber Texten einnehmen, eigene Emotionen empfinden und die Gefühle der Figuren durch empathisches Miterleben teilen.
Die Fähigkeit, die es uns erlaubt, mit anderen und sogar literarischen Figuren mitzufühlen, beruht auf der sogenannten Theory of Mind (ToM), eine entwicklungspsychologisch-kognitionswissenschaftliche Theorie, die, nach Murray Smith, eine Art »empathisches Imaginieren«5, bei dem wir uns vorstellen, wie eine andere Person fühlt und die Welt sieht, beschreibt. Wir schließen von ihrem Verhalten auf den Gefühlszustand der Person. Durch unsere Annahme, dass unser Gegenüber uns ähnlich ist, nehmen wir an, dass es fühlt, denkt und Ziele verfolgt wie wir. Wir gehen nicht davon aus, dass unser Gegenüber genauso so denkt wie wir; wir schreiben ihm lediglich zu, dass er oder sie denkt. Ebenso gehen wir davon aus, dass auch unser Gegenüber sich unsere eigenen Gedanken, Gefühle, Ziele und zukünftigen Handlungen vorstellt. Diese Fähigkeit, eine Vorstellung der Bewusstseinszustände und -vorgänge anderer zu haben, nutzen wir auch bei der Lektüre literarischer Werke.

Indem der Leser eine Theorie über das Innenleben der Figuren bildet, kann er sich also vorstellen, was in ihnen vorgeht – das bedeutet allerdings nicht, dass er dieselben Emotionen fühlt, die er der Figur zuschreibt, was Mellmann in ihren Ausführungen unterstreicht.

Der Göttinger Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer bringt hier die Möglichkeit einer Gefühlsübertragung durch Spiegelneuronen ins Spiel. Diese feuern entweder, wenn wir selbst handeln, aber eben auch dann, wenn wir eine Handlung lediglich beobachten, was vermutlich die Grundlage für die ToM ist. Entdeckt wurden die Spiegelneuronen eher zufällig bei einem Experiment mit Makaken, deren neuronale Aktivität beim Aufnehmen von Futter mit den Händen untersucht wurde. Wenn ein Affe einem Helfer dabei zusah, wie er neues Futter für das Experiment ergriff, wurden die selben Neuronen als aktiv angezeigt, die auch aktiviert waren, als der Affe selbst nach dem Futter griff. Interessanterweise werden Spiegelneuronen auch aktiviert, wenn wir eine Handlung, statt sie auszuführen oder zu beobachten, lediglich bereden. Deshalb nimmt Lauer an, dass auch das Lesen über Figurenemotionen oder die Vorstellung eines bestimmten Bewusstseinszustandes ausreicht, um Spiegelneuronen zu aktivieren6. Liest man also von Harrys klopfendem Herzen, seinen zitternden Knien und der Sorge um seine Freunde, könnten die Spiegelneuronen feuern und den Leser in einen vergleichbaren emotionalen Zustand versetzen.

Die Forschungsergebnisse zur ToM und zu Spiegelneuronen könnten Erklärungsansätze dafür liefern, warum bei Lesern auch bei wiederholter Lektüre immer wieder Furchtemotionen evoziert werden. Ebenso wie die Situationsdetektoren für ›Gefahr für Leib und Leben‹ und ›mögliche Feindanwesenheit‹ bei wiederholter Rezeption aktiviert werden können, scheinen auch Spiegelneuronen bei wiederholten gleichen Reizen zu feuern.

Planungsemotionen

Folgt man Mellmanns und Lauers Ansätzen, müssten Leser und Zuschauer der Harry Potter-Reihe immer wieder Angst vor Voldemort empfinden, wenn sie ihn sehen, ihn sich vorstellen oder Harrys Gefühle imaginieren. Doch wie verhält es sich mit der Angst um Harry und seine Freunde? Kann auch diese Angst jedes Mal neu erzeugt werden?

Letztlich geht die Frage eng einher mit der Frage nach dem wiederholten Spannungszustand in Bezug auf den Handlungsverlauf. Die Grundfragen der Harry Potter-Reihe lauten: Siegt am Ende das Gute über das Böse? Entkommt Harry der Gefahr durch Voldemort? Wenn nur einer der beiden überleben kann – wie es in der Prophezeiung heißt – wer wird es sein? Wenn der Zweitrezipient nun aber bereits weiß, dass Harry überlebt und Voldemort besiegt wird, wie soll er dann in einen erneuten Zustand der Spannung geraten beziehungsweise erneut Angst um Harrys Leben empfinden?

Mellmann bezieht sich hier auf Thomas Anz, dessen Spannungsbegriff sich nicht mit dem, was oder wie etwas geschieht beschäftigt, sondern ihn als den Wunsch des Rezipienten, dass X und nicht Y geschieht versteht7. Der Rezipient habe gewisse Präferenzen bezüglich des Handlungsausgangs; diese seien meist überindividuell, also weitestgehend unabhängig von subjektiven Vorlieben des Lesers8. Eine wichtige Rolle spiele hierbei das menschliche Bedürfnis nach Komplettierung. Forschungen haben ergeben, dass Entspannung vor allem nach einer erledigten Aufgabe entsteht – zuvor herrsche ein Zustand der Anspannung9. Der Kampf zwischen Gut und Böse – auf dem die Handlung von Harry Potter zweifelsohne beruht – ist ein solches überindividuelles Thema. Solange der Kampf nicht aufgelöst ist, das Liebespaar nicht zusammengekommen ist oder der Held nicht das verdiente Glück gefunden hat, verbleibe der Rezipient in einem Zustand der Spannung – und dabei sei es egal, ob er bereits wisse, wie es ausgeht oder nicht.

Das Paradox, das keines ist

Der Versuch, das Paradox der Spannung zu lösen, zeigt, wie facettenreich das Phänomen Spannung ist und wie unterschiedlich es definiert wird. Letztlich ist die Lösung des Paradox der Spannung eine terminologische. Verbindet man den Begriff Spannung eng mit der Ungewissheit des Lesers über den Handlungsausgang, erscheint nur Yanals Lösungsvorschlag sinnvoll, nach dem ein Spannungsempfinden bei der Relektüre ausgeschlossen wird. Aussagen hierüber entstünden durch die Fehlinterpretation von Angstemotionen der Mehrfachleser. Eine evolutionspsychologische Betrachtung des Leserzustands zeigt, dass Furcht als Teil des Ensembles von Emotionen, die einen Spannungszustand ausmachen, nicht wirklich von Spannung zu trennen ist. Theorien wie die Theory of Mind und Annahmen zur Funktion von Spiegelneuronen liefern vielversprechende Erklärungsansätze, wieso Texte Furcht beim Leser (auf unterschiedlichen Ebenen) auslösen können und – vor allem – wieso diese bei jeder Lektüre erneut ausgelöst werden.

Der kognitive Aspekt von Spannung ist der kritische Punkt, der eine Auflösung des Paradoxes bislang verhindert hat, weil er zu eng an die Informationsvergabe und den Wissensstand des Rezipienten geknüpft ist. Löst man den Spannungsbegriff von der Ungewissheit des Rezipienten und erweitert ihn auf die Unvollständigkeit einer Handlung, erscheint es nicht mehr paradox, mehrfach in einen Spannungszustand in Bezug auf das Geschehen zu gelangen. Bei der Erstrezeption soll die Ungewissheit – die ihrerseits ebenfalls ein Zustand der Unvollständigkeit ist – aufgelöst werden; bei der Zweitrezeption ist der Ausgang nicht ungewiss, aber dennoch solange unvollständig, wie die Rezeption andauert. Somit erzeugt der Wunsch, diesen Zustand zu überwinden, einen spannungsvollen Zustand bis zur Auflösung. Der Harry Potter-Leser ist immer und immer wieder solange gespannt, bis Familie Dursley endlich nett zu Harry ist, Hermine und Ron ein Paar sind und der Kampf zwischen Harry und Voldemort endgültig entschieden ist.

Um Missverständnisse aufgrund terminologischer Heterogenität in der Spannungsforschung zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, verschiedene Spannungsarten voneinander zu unterscheiden. Anknüpfend an die Unterscheidung Daniela Langers zwischen handlungsorientierter und nicht-handlungsorientierter Spannung könnte diejenige in Bezug auf Unvollständigkeit als themenorientierte Spannung bezeichnet werden. Eine klarere Unterscheidung und nicht zuletzt die Offenheit der Spannungsforschung für evolutionspsychologische und kognitionswissenschaftliche Ansätze böte nicht nur ein hohes Potenzial gewinnbringender Erklärungsansätze für das Paradox der Spannung, sondern sie würde mit Sicherheit zu noch mehr spannenden Forschungsfragen führen.

  1. Mellmann, Katja: »Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von ›Spannung‹«, in: dies., Karl Eibl und Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, in: Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner (Hg.): Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 5. Paderborn, 2007, S. 241–268, hier: S. 245.
  2. Vgl. ebd., S. 246ff.
  3. Ebd., S. 253.
  4. Vgl. ebd., S. 254ff.
  5. Smith, Murray: »Empathie und das erweiterte Denken«, in: Thomas Schick, Tobias Ebbrecht (Hg.): Emotion – Empathie – Figur: Spielformen der Filmwahrnehmung, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. Berlin, 2008, S. 13-59, hier: S. 14.
  6. Vgl. Lauer, Gerhard: »Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung«, in: Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, in: Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner (Hg.): Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 5. Paderborn, 2007, S. 137-163, hier: S. 152ff.
  7. Vgl. hierzu Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück bei Lesen. München, 1998, S. 168.
  8. Vgl. Mellmann, 263ff.
  9. Mellmann bezieht sich hier auf den sogenannten Zeigarnik-Effekt sowie Ausführungen dazu von Tooby und Cosmides in ebd., S.261ff.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 22. April 2016
 Kategorie: Wissenschaft
 Modifizierte Abbildung einer Illustration von Walther M. Baumhofer; online gestellt unter dem Titel ... I can't look! von James Vaughan via Flickr
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