Tschechien stand dieses Jahr als Gastland der Leipziger Buchmesse im Rampenlicht. Damit tschechische Literatur deutschen Leser*innen auch nach der Messe ein Begriff bleibt, gibt es hier ein paar Tipps zu Titeln und Personen, die in Leipzig präsent waren.
Von Stefan Walfort
Jürgen Serke, Experte für die deutsch-böhmische Literatur, stellte 2004 bei einer Podiumsdiskussion in der Prager Stadtbibliothek, nachzulesen im Else-Lasker-Schüler-Almanach Nr. 7, die Gleichung auf: »Slawischer Autorenname – schwieriger Absatz«. Ob sich das nach der Buchmesse grundlegend ändern wird? Versuche, einen deutsch-tschechischen Kulturtransfer anzustoßen, haben eine lange Tradition. Wie Mirek Němec 2001 in brücken. Germanistisches Jahrbuch. Tschechien – Slowakei erläuterte, waren Hauptmedien dafür im 20. Jahrhundert Zeitschriften mit Namen wie Witiko, benannt nach einem gleichnamigen Stifter-Roman, oder Die Provinz, gegründet 1924, um »negative Entwicklungen in den vorwiegend deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei […] anzuprangern und die hier lebenden Einwohner aufzuklären und zu bilden«. Von Karlsbad aus wollten die Herausgeber der Welt demonstrieren, dass Kleinstädte nicht per se hinterwäldlerisch sein müssen. Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen. Wegen mangelnder Nachfrage stampfte man Die Provinz nach nicht einmal einem Jahr wieder ein. Nicht zu vergessen sind natürlich die Zäsur der Nazizeit und die Tatsache, »dass 152 Literaten den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt haben. Das ist für eine kleine Literatur ein fürchterliches Pensum«, wie der tschechische Autor Jiří Gruša in Prag im Gespräch mit Serke, Tomáš Kafka, Hans Dieter Zimmermann und Peter Becher in Erinnerung rief.
Trotz einer so schweren Hypothek gründeten Enthusiast*innen – laut Selbstdarstellung seien sie »Kulturvermittler zwischen der tschechischen und der deutschen Literatur« – 1994 die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift
Wer sich mit tschechischer Literatur noch gar nicht auskennt, kann sich mit der Ostragehege einen ersten schon recht umfangreichen Überblick über Tendenzen in Lyrik und Epik verschaffen – unter anderem über Gedichte und Prosa Sylvia Fischerovás, »einer der bedeutendsten zeitgenössischen tschechischen Dichterinnen«, wie deren Übersetzerin Daniela Pusch im Café Europa hervorhob. Fischerová selbst las dort auf Tschechisch aus ihrem Gedichtband Die Weltuhr sowie dem Roman Europa ein Thonet-Stuhl, Amerika ein rechter Winkel. Anschließend übersetzte Pusch die ausgewählten Stellen ins Deutsche. Fischerovás Selbstinterpretation zufolge dreht sich alles in den beiden Büchern um einen Kosmopolitismus, der jederzeit in Provinzialismus zu kippen droht.
Dementsprechend heißt es in dem – auch in Ostragehege abgedruckten – Gedicht Die Weltuhr klemmt: Brüssel über die Zeit, in der die Tschechoslowakei als Satellitenstaat der Sowjetunion noch durch den Eisernen Vorhang vom Westen getrennt war:
Hätte mir damals jemand gesagt,
dass ein Vierteljahrhundert später
ich vom Flughafen Václav Havel
in die Hauptstadt / des vereinigten Europa fliege,
ich hätt᾽ ihn in die Klapse geschickt.
Doch jetzt, Jahrzehnte später, folgt auf den Triumph der Freiheit und der Möglichkeit, ferne Länder zu bereisen, alsbald vor allem Ernüchterung:
Ich blicke an die Wand
auf drei Reißzwecken:
Im Wohnheim Ghandi
erwartete mich nicht einmal
ein Betttuch […]
Pack dich und flieg
nach Hause.
Niederschmetternde Erfahrungen mit der Ferne greifen Teile der tschechischen Literatur als ein wiederkehrendes Motiv auf. Dabei nimmt »Geschichte eine wichtige Rolle [ein]. So als wollten die Bewohner dieses von historischen Brüchen gezeichneten Raums sich ihrer Identität versichern, den Raum wieder aufspannen, sich dem Verlust stellen«, wie Susanne Lenz am Beispiel der neuesten Romane Jaroslav Rudiš᾽, Vratislav Maňáks und Kateřina Tučkovás festhält. Dergleichen gilt auch für Bianca Bellovás Roman Am See, aus dem Bellová auf der Messe am tschechischen Nationalstand las.
»Für immer zerbrochen«Im Mittelpunkt des Romans steht eine strukturschwache Gegend rund um die Kleinstadt Boros und einen verseuchten See. Wer darin schwimmt, kämpft anschließend mit Brechanfällen. Viele Boroser*innen leiden unter
Mittendrin wächst Nami auf. Dessen Werdegang verfolgen die Leser*innen vom Kindes- bis zum Erwachsenalter – vom Leiden in und an Boros und an den Menschen vor Ort bis hin zur Flucht in die nächstgelegene Großstadt, aus der er nach vielen Jahren zurückkehrt. Zwischenzeitlich schlägt er sich mit harter und gesundheitsschädigender Arbeit durch. Eine Zeitlang findet er in einer Massenunterkunft Obdach, gemeinsam mit Tausenden von Bettwanzen und zu Messerstechereien aufgelegten Kollegen. Ein andermal nimmt ihn der Dealer Johnny unter die Fittiche und bildet ihn zum Drogenkurier aus.
Eines Tages treibt es Nami auf der Suche nach seiner Mutter auf Baumwollplantagen in die Wüste. Die Begegnung mit ihr endet frustrierender als erwartet: »[E]twas zwischen ihnen sei für immer zerbrochen«, so berichtet Nami später einer Bekannten. Zurück in Boros muss er letztlich begreifen, wie schwer es ist, dort ohne Weiteres neu anzuknüpfen:
Nami hat Fragmente von sich in Menschen hinterlassen, die er geliebt hat, aber er selbst hat nichts mehr.
Der Schluss stimmt zutiefst deprimierend. Doch den Wert des Romans, in dem nahezu alle Ereignisse erstklassig erzählt sind, schmälert das nicht. Einzig mit der personalen Perspektive legt sich Bellová zu Beginn, als Nami noch ein Kleinkind ist, ein paar Steine in den Weg: Während der Kleine im See zu ertrinken droht, heißt es: »Die Luft bleibt ihm weg, seine Lunge tut weh. Während er hinabgleitet, wird das Wasser immer kälter. Nami sinkt reglos weiter, die zur Seite gestreckten Arme wehen neben seinem Körper. Gleich wird er den Seegeist zu Gesicht bekommen, der am Grund lebt«. Das weist weit über den Reflexionshorizont eines Vierjährigen hinaus. Zwei Perspektiven, Namis und eine externe, beginnen einander zu überlagern. Nur wenige Irritationen dieser Sorte springen einem ins Auge. Da ansonsten jeder Satz wie ein abgeschossener Pfeil vorwärtsdrängt, beeinträchtigen sie die Qualität aber kaum.
Viel typisch tschechischer Galgenhumor lässt selbst die Hauptbotschaft, die Am See auf die Leser*innen loslässt, erträglicher wirken, als sie eigentlich ist. Sie lautet in etwa: Selbst nach dem Ende zweier Diktaturen ist das Leben in den erst von den Neuraths und Heydrichs und später von den Stalins und Breschnews drangsalierten Regionen weiterhin ein täglicher Überlebenskampf. Orientierungslosigkeit grassiert nun besonders; keiner entkommt ihr, egal, wie sehr sich die Menschen für ihre Zukunftsträume aufreiben. Bellová wurde dafür unter anderem mit dem Magnesia Litera-Preis, dem wichtigsten tschechischen Buchpreis, ausgezeichnet. Nachdem Am See erstmals 2016 auf Tschechisch erschien, ist der Roman inzwischen in fünf Sprachen erhältlich. Hoffentlich wird er demnächst noch sehr viel breiter rezipiert werden, und hoffentlich wird künftig noch mehr aus Bellovás Feder auch auf Deutsch zu erwerben sein.
In Kakanien nichts NeuesViel Humor ist auch das Markenzeichen eines neuübersetzten Klassikers, den Reclam in Leipzig präsentierte und den Neubert in Ostragehege 91 als »Poláčeks wahrscheinlich beste[n] Roman« rühmt: Karel Poláčeks Satire Die Bezirksstadt ist eine ganz besondere Entdeckung. Auch sie fokussiert sich wiederum auf Geschichte, diesmal auf die Zwischenkriegszeit und den Untergang der Habsburger Monarchie. Die Bezirksstadt ist eine Art tschechisches Kleinstadtpendant zu Robert Musils Wiener Großstadtroman Der Mann ohne Eigenschaften, wenngleich nicht ganz so ambitioniert und so ausufernd. Hier wie dort kreisen Figuren mit einer sehr beschränkten Denke ausschließlich um sich selbst – die einen, bei Musil, indem sie zum 70jährigen Kaiserjubiläum auf Biegen und Brechen »etwas Großes« auf die Beine stellen wollen. (Was genau, weiß selbst nach 1000 Seiten noch niemand, aber »besser als Preußen« muss es dastehen; alles andere ist Nebensache. Deshalb gründen »geflügelte Ochsen« – welch ein brillantes Bild! – wie verrückt Ausschüsse und Unter- und Unterunterausschüsse. Während nichts passiert, schützen alle hektische Betriebsamkeit vor.) Die anderen, bei Poláček, dagegen bemühen sich beim Auf-der-Stelle-Trampeln nicht einmal um den Anschein, etwas bewegen zu wollen.
Ein Friseur, ein Spediteur und ein ehemaliger Postmeister hängen stattdessen tagein, tagaus in einer Apotheke herum. Vom Apotheker lassen sie sich mit Likör bewirten, vom ehemaligen Postmeister mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Wenn sich die vier zu einem Puff-Besuch aufrappeln, ist schon der Höhepunkt an Betätigungsdrang erreicht. Und obwohl die winzige Ortschaft so gut wie nichts zu bieten hat, ist es ihr eigen, dass sie »eitel auf ihrer Einmaligkeit beharrt und niemanden anderen ehrt und anerkennt als nur sich selbst«. Zu spüren bekommt das besonders der einst fortgezogene, nun erfolgreiche Kaufmann Kamil. Immer wenn er zu Besuch ist, versucht er seinen Vater, ebenfalls Kaufmann, aber deutlich weniger weltoffen, vergeblich von Innovationen zu überzeugen. Gerade in den kleinsten Käffern Kakaniens hat eben alles gefälligst beim Alten zu bleiben (Ein Früher-war-alles-besser-Duktus kennzeichnet auch die Sehnsüchte derer, die sich bei Musil von einer angeblichen Schnelllebigkeit der Großstadt überfordert fühlen). Den Daheimgebliebenen sind Impulse eines nicht mehr Dazugehörenden nur ein Dorn im Auge, führen sie doch mit ihren Verweisen auf Erfolge die eigenen Defizite vor Augen.
Poláček schlachtet solche Befindlichkeiten genüsslich aus. Sämtliche Allianzen zwischen Figuren stellt er als von Streitsucht unterwandert bloß. Innere Monologe geben permanent Aufschluss über eine Falschheit, mit der
Poláček, der 1943 nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz deportiert wurde und unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen den Tod fand, hinterlässt seinen Leser*innen ein 22 Bände umfassendes Werk. Leider sind die wenigsten davon bislang ins Deutsche übersetzt worden, und bis auf die neue Bezirksstadt-Ausgabe und eine vor kurzem erschienene Neuausgabe der Fußball-Komödie Männer im Abseits ist alles im Deutschen erschienene längst vergriffen. Dem Reclam-Verlag gebührt großer Dank dafür, dass er dem deutschen Publikum einen derart interessanten Autor zugänglich macht. Einen großen Lese-Spaß garantieren auch Poláčeks Roman Das Haus in der Vorstadt, in dem der Hausbesitzer Johann Faktor, der seine Mieter finanziell ausblutet, schikaniert und gegeneinander ausspielt, sich selbst als bornierter Narr entlarvt, sowie der Kinderstreich-Roman Wir fünf und Jumbo, in dem Poláček 1940–1943, schon in großer Gefahr schwebend, ganz vorsichtig obrigkeitskritische Töne unterbrachte.
Die beiden letztgenannten Werke sind zwar über Universitätsbibliotheken nach wie vor beziehbar, doch wie genial wäre es, wenn sich in naher oder ferner Zukunft Sponsoren fänden, denen an Neuübersetzungen auch dieser und weiterer Werke gelegen wäre? Denn Poláčeks mit Giganten wie Musil, Kraus und Kafka locker mithaltendes Oeuvre hat eine breite, über Tschechien hinausreichende Öffentlichkeit mehr als verdient.
Es mangelt an breitenwirksamer PromotionDamit das gegenwärtig erwachte Interesse an tschechischer Literatur nicht bald wieder in Schlummer versinkt, ist natürlich mehr an Kraftaufwand vonnöten, als nur Übersetzungen zu ermöglichen. Wie Ondřej Buddeus, Leiter des tschechischen Literaturzentrums, in Ostragehege 91 im Interview mit der Übersetzerin Pusch darlegt, organisiere seine Einrichtung mittlerweile Stipendien, die den Übersetzer*innen unter anderem »einen zwei-, drei- oder vierwöchigen Residenz-Aufenthalt in Prag« sowie »Kontakt[e] zu jedem aus der tschechischen Literaturszene« ermöglichen. Vor allem gilt es dann aber auch, Übersetzungen breitenwirksam zu promoten, sobald sie auf den Markt kommen. Romanen wie Am See und Die Bezirksstadt täten sicher mehr Besprechungen seitens renommierter Kritiker*innen gut. Zwar wurde Am See vom Deutschlandfunk, dem SWR, dem Tagesspiegel und vielen weiteren Multiplikatoren gewürdigt. Doch in der ZEIT, der FAZ und Medien von ähnlichem Kaliber, in denen vornehmlich über den Buchmessepreis-Anwärter Rudiš berichtet wurde, sucht man Verweise auf unbekanntere tschechische Autor*innen mit der Lupe. Blieb es bislang Pionier*innen wie Neubert vorbehalten, in weniger beachteten Medien für entsprechende Aufmerksamkeit zu kämpfen, so ist ihnen künftig mehr Beistand zu wünschen.