Pablo Larraíns neuer Film Ema verbindet zeitgemäße Themen mit virtuoser Ästhetik und innovativen visuellen Einfällen. Die außergewöhnliche schauspielerische Leistung von Hauptdarstellerin Mariana di Girolamo macht Ema zu einem Muss für alle Fans des internationalen Arthouse-Kinos.
Von Fabio Kühnemuth
Es ist natürlich müßig zu spekulieren, welch ein Erfolg Ema hätte sein können, wenn dem Film ein »normaler« Kinostart in einem »normalen« Jahr vergönnt gewesen wäre. Der Film kam am 22. Oktober 2020 in die deutschen Kinos – also genau neun Tage bevor diese mit Beginn des sogenannten »Lockdown light« schließen mussten. Entsprechend groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Werk an (zu) vielen Menschen vorbeigegangen ist und entsprechend schwer ist es, sich nicht über diese verpasste Gelegenheit zu ärgern.
Weniger leidtun muss einem das konkret für Pablo Larraín. Der chilenische Regisseur ist, genau wie Hauptdarsteller Gael García Bernal, ein internationaler Star und Stammgast auf den großen Festivals. Für die Hauptdarstellerin Mariana di Girolamo hätte ihre überragende Leistung in Ema allerdings zwingend den internationalen Durchbruch bedeuten müssen. Der Film, der 2019 seine Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig feierte, erscheint nun hierzulande auf DVD, Blu-ray sowie als Video-on-Demand und sei, soviel schonmal vorweg, allen Filminteressierten wärmstens ans Herz gelegt.
Zeitgemäße Thematik, virtuose ÄsthetikLarraíns neuester Film verbindet auf virtuose Weise die zeitgemäßen Themen von feministischer Schwesternschaft und (individuellem wie kollektivem) Widerstand gegen das Patriarchat mit atemberaubender Ästhetik. Der Inhalt ist einerseits schnell umrissen, andererseits aber nur schwer greifbar. Im Zentrum der Handlung steht die Titelfigur Ema (Mariana di Girolamo), eine junge Frau und professionelle Tänzerin sowie Tanzlehrerin für Kinder aus der chilenischen Großstadt Valparaíso. Der Film beginnt jäh und unvermittelt mit dem Grundkonflikt, der alle weiteren Aufs und Abs des Handlungsverlaufs bestimmen wird: Polo (Cristián Suárez), der Adoptivsohn von Ema und ihrem Partner Gastón (Gael García Bernal), hat ein Feuer gelegt und dabei versehentlich Emas Schwester schwer verletzt. Daraufhin haben Ema und Gastón ihn wieder zur Adoption freigegeben – eine Entscheidung, die beide nun zutiefst bereuen.
In einer gleichsam denkwürdigen wie unangenehmen Sequenz machen sich die beiden tief verletzten Figuren gegenseitig schwere Vorwürfe. Gastón behauptet, Ema habe das Kind im Stich gelassen – ein Verschulden, das für eine Mutter noch viel schwerer wiege als für einen Vater (»Eine Frau macht sowas nicht.«) Ema hingegen wirft Gastón (ebenso ungerechterweise) dessen Unfruchtbarkeit vor. Außerdem hätten sie ohnehin ein jüngeres Kind adoptieren wollen. Die Kamera ist bei dieser Konfrontation genau zwischen den beiden Figuren positioniert; Ema und Gastón schauen jeweils direkt hinein. Das Publikum wird so unmittelbar mit einbezogen und beinahe gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Einfach nur unbeteiligt zu beobachten, ist beinahe unmöglich. Der Schmerz sitzt bei beiden tief und in Wahrheit machen sie sich selbst die größten Vorwürfe. Ihre Beziehung droht an der Angelegenheit zu zerbrechen, obgleich sich die beiden (auf ihre Art) lieben.
Tanz als Ausbruch und BefreiungZusätzlich verkompliziert wird die Situation durch die Tatsache, dass Ema und Gastón sich auch den Arbeitsplatz teilen. Gastón ist Regisseur und Choreograf in dem Tanztheater, zu dessen Ensemble Ema gehört. Sie fühlt sich von seinen Vorgaben kontrolliert und in ihrer Kreativität beschnitten. Durch das professionelle Machtgefälle entsteht eine weitere Konfliktlinie, die keineswegs zufällig auch zwischen den Geschlechtern verläuft. Dabei ist der Tanz (vornehmlich Reggaeton) für Ema ein Akt des Ausbruchs aus gesellschaftlichen und Geschlechterkonventionen; ein (wenn auch nur vorübergehender) Moment absoluter Freiheit.
Es ist die große Stärke des Films, dass er, durch die Kameraarbeit von Sergio Armstrong, diese Freiheit auch für das Publikum förmlich spürbar werden lässt. Die Ästhetik der Tanzperformances, ob auf einer Bühne inszeniert oder scheinbar spontan improvisiert auf der Straße, ist nicht weniger als umwerfend; die Kamera tanzt gewissermaßen mit den Akteur:innen und gibt sich dem Fluss der Bewegung hin. Das Prinzip der fließenden Bewegung liegt dem ganzen Film zugrunde; unzählige Steady-Cam und Tracking Shots folgen den Protagonist:innen und selbst vermeintlich statische Einstellungen entpuppen sich oft als fast unmerklich langsame Kamerafahrten. Die dynamische Bildgestaltung, Neonfarben und ausgedehnte Zeitlupensequenzen erinnern nicht zufällig an die Ästhetik teurer Musikvideos – und werden doch niemals zum Selbstzweck, sondern sagen immer etwas über die Figuren aus.
»Ich tanze das Leben«, sagt eine Freundin von Ema an einer Stelle und es klingt wie eine programmatische Überschrift für den ganzen Film. Und dennoch macht sie, bei aller Sympathie für Emas Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung, die Identifikation mit der Figur alles andere als leicht. Ema ist selbstbewusst, erratisch, impulsiv und widersprüchlich, sie stößt das Publikum und die anderen Figuren immer wieder ab oder vor den Kopf. Der Film ist geprägt von diesem Hin und Her, das seinerseits in gewisser Weise einem Tanz ähnelt. So ist alles an Ema intensiv: die Musik, die Farben, die Emotionen, die Höhen und Tiefen, Freude und Leid.