Gerade noch rechtzeitig für Kurzentschlossene: Litlog bespricht Bücher für den Gabentisch und die ganze Familie, inklusive des reaktionären Onkels, der nostalgischen Tante und der splatteraffinen Cousinen.
Was bleibt, ist der See
Von Frederik Eicks
Robert Seethaler: Der Trafikant
In Deutschland erstarken rechtspopulistische wie rechtsextreme Bewegungen. Inzwischen sind ein Tattoo der Schwarzen Sonne und eine mangelnde Distanz zur Neonazi-Szene bei der CDU kein Grund mehr für einen Parteiausschluss. Rechtsextreme Positionen werden verharmlost und wieder salonfähig gemacht. Während dieser Prozess hierzulande erst mit den Erfolgen der nationalistischen, demokratiefeindlichen AfD ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit vorgedrungen ist, vollzog er sich in Österreich deutlich früher: Die dem rechtsextremen Milieu nahestehende FPÖ war seit
Dabei bleibt die Handlung angenehm überschaubar: Im Sommer 1937 wird der 17-jährige Franz Huchel von seiner Mutter nach Wien geschickt, um in der Trafik eines Familienfreunds zu arbeiten. Dort lernt er Sigmund Freud kennen und freundet sich mit ihm an. Der Protagonist erlebt die für einen Coming-Of-Age-Roman – und im Kern der Sache ist Der Trafikant genau das – typischen ›Highs and Lows‹, die aufgrund des historischen Settings besonders drastisch ausfallen. Er wird Zeuge des wachsenden Antisemitismus, von dem auch die Trafik betroffen ist, erfährt, wie sich die erste Liebe und das erste Mal anfühlen, vermisst seine Mutter und leidet nach der ›Angliederung Österreichs‹ an Deutschland unter den Repressionen des deutschen Staatsapparats.
Bei aller oberflächlichen Überschaubarkeit dringt der Roman in erstaunliche Tiefen vor, weshalb man ihm durchaus Zeit geben muss, sich zu entfalten – genau wie Franz. Aus dem anfangs beinah schmerzhaft unbedarften und naiven Jugendlichen, der glaubt, »man gewöhnt sich an alles«, und seine Zeit als Tagedieb zubringt, wird ein selbstständiger junger Mann mit einer klaren politischen Haltung:
Was bleibt, ist der See. Die Berge und die Wolken werden sich länger darin spiegeln als die paar dürren Hakenkreuzstangeln, das kannst Du mir glauben!
Ausgelöst wird diese Entwicklung weniger durch die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, die für Franz undurchsichtig und verwirrend sind. Stattdessen vollziehen sich Schlüsselmomente in seinem engsten sozialen Umfeld. Im letzten Aufeinandertreffen mit seiner geliebten Anezka, die einzige ihm noch nahestehende Person vor Ort, wird dieses Umfeld auch zum Gegenlicht, in dem er sich verändert: Franz ist nun der klar Widerständische auf der einen Seite und Anezka die Opportunistin, die mit einem SS-Offizier anbandelt, auf der anderen.
Seethaler erzählt schnörkellos, manchmal mit einigen eher abgedroschenen Vergleichen, allerdings auch mit einigen wundervollen Sprachbildern:
Es war, als ob die Luft geronnen wäre und die ganze Landschaft in ihre stille Bewegungslosigkeit eingeschlossen hätte.
Ohne Kitsch, aber mit dem Pathos eines hoffnungslos verliebten 17-jährigen wird von der Liebe gesprochen. Mit klarem Verstand und ohne der anfänglichen Naivität des Protagonisten zum Opfer zu fallen, ordnet eine externe Instanz die Taten der Nationalsozialisten als das ein, was sie sind: Verbrechen. In dieser Hinsicht profitiert der Roman davon, nicht aus der Ich-Perspektive erzählt zu sein. So können Franz᾽ vorerst unkritische Betrachtungen immer denen anderer Figuren gegenübergestellt werden, bis Franz den Zustand der Verwirrung überwindet und seine eigene Stimme gegen den Nationalsozialismus erhebt.
Auch heute gilt es, Stellung zu beziehen, wenn eine 180°-Wende der Erinnerungskultur gefordert wird oder die Verbrechen des ›Dritten Reichs‹ gezielt heruntergespielt werden. Dementsprechend könnte ein Buch nicht relevanter sein als Der Trafikant. Somit lässt sich eine klare Geschenkempfehlung aussprechen – für Personen, die noch nach ihrer Stimme suchen oder sie schon gefunden haben und auch für alle anderen, weil es so wichtig ist.
Advent und Apokalypse
Von Oke-Lukas Möller
Alfred Kubin: Die andere Seite
Kubins Die andere Seite wird auf dem Klappentext der mittlerweile 6. Auflage, die 2019 im Rowohlt-Verlag erscheint, als ein »Jahrhundertroman« beworben: Der Prozess, Pride and Prejudice und … Die andere Seite? Handelt es sich hier um eine in Vergessenheit geratene Perle der Weltliteratur, die unter den Bücherlawinen der letzten 110 Jahre verschüttet lag und nun endlich wieder ausgegraben wurde? Wohl eher nicht, aber so viel vorweg: Freund*innen endzeitlicher Splatterfilme und alttestamentarisch-anmutender Gewaltexzesse sei dieses Werk wärmstens ans Herz gelegt.
Der Roman beginnt zunächst als ein lethargisch geschildeter Abenteuer- und Reiseroman. Ein Ich-Erzähler macht sich auf in das Herz der Finsternis: das
Sein Faible für Schauriges spiegelt sich auch in Alfred Kubins Hauptwerk: Er arbeitete zeitlebens als Illustrator und hatte im Vorfeld der Arbeit an Die andere Seite bereits Illustrationen zu einigen Standardwerken der Schauerliteratur von Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann angefertigt. Vor diesem Hintergrund bleibt es jedoch komplett unverständlich, weshalb sich Rowohlt dazu entschieden hat, Kubins ersten und einzigen Roman, abgesehen von einer wenig hilfreichen Karte, ohne die über fünfzig Illustrationen des Autors neu aufzulegen. Immerhin stammt das Buchcover aus Kubins Feder, es unterscheidet sich allerdings stilistisch stark von den Abbildungen der Originalausgabe, und auch das Motiv eines Totenkönigs wirkt in Bezug auf den Inhalt des Romans eher beliebig. Potenziellen Käufer*innen sei daher empfohlen, sich lieber eine Ausgabe anzuschaffen, die über Kubins sämtliche Zeichnungen verfügt.
Im Kontrast zu seinen ausgezeichneten Illustrationen ließe sich zur Qualität von Kubins Prosa vielleicht sagen, dass sie in bester Illustratorenmanier nicht vor holzschnittartigen Figurendarstellungen zurückschreckt: Den Disruptor Herkules Bell stellt er als eine wenig subtile Mischung aus cowboyhafter Selbstschussanlage und unaufhaltsamer Dampflok dar (von den kapitalismuskritischen Implikationen dieses Bildes ganz zu schweigen). In der Rezeption des Romans wurde häufig sein hellseherisches Potenzial betont. Das ist sicherlich etwas übertrieben, die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen um 1900 spiegelt der Untergang des Traumreichs jedoch auf recht beeindruckende Weise wider. Die andere Seite ist vielleicht kein Jahrhundertroman, aber allemal ein historisch bedeutendes Werk der deutschsprachigen Dekadenzliteratur. Feinste Dekadventslektüre für besonders Abgebrühte eben.
Früher war Vieles schlechter
Von Stefan Walfort
Mechthild Grossmann/Dorothea Wagner: Besser spät als nie. Eine Liebeserklärung an das Alter
Dem Titel und dem Klappentext nach stand zu befürchten, man werde über 250 Seiten lang durch Seichtgewitter geschickt: In Besser spät als nie berichte die knapp 80jährige Mechthild Grossmann, unterstützt durch ihre Enkelin Dorothea Wagner, Journalistin beim Magazin der Süddeutschen Zeitung, »von den großen und kleinen Momenten des Altwerdens. Von den wundervollen Freiheiten genauso wie von dem Phänomen, dass Bekannte plötzlich nur noch über ihre Krankheiten reden wollen«. Wie klischeehaft! Und dann erst das Inhaltsverzeichnis! Es kündigt sage und schreibe 69 Kolumnen an (den Großteil gibt es bei der SZ für lau) – mit Titeln wie Eine Liebeserklärung an den Mittagsschlaf. Über die magische Wirkung von Pausen im Alltag. Gähn! Oder Das Geheimnis meiner Badeanzug-Figur. Über die Schönheit von Falten. Das kann ja heiter werden!
Erst auf Seite 24 angekommen muss man erfahren:
Ich habe etwas, das man liebevoll als ›Chicken Wings‹ bezeichnen kann. Das bedeutet, dass die Haut an meinen Armen schlaff von den Muskeln baumelt. Wie kleine Flügelchen.
Grossmanns Tipp zum Umgang damit:
eine stoisch würdevolle Haltung. […] Und wenn ich morgens in den Spiegel schaue, habe ich einen Trick. Die meisten Falten habe ich, wenn ich unzufrieden schaue. Ich nenne diese Falten meine Angela-Merkel-Falten. Es gibt ein einfaches Gegenmittel: lächeln.
Das ist so ein Moment, in dem man als Literaturkritiker*in die Tatsache verflucht, sich die zu besprechenden Bücher nicht immer aussuchen zu dürfen. So viel es durch Auftragsarbeiten auch zu lernen geben mag – so etwas grenzt an Selbstgeißelung. Wer hätte gedacht, dass Grossmann 20 Seiten danach die Kurve kriegt und sich Besser spät als nie als kluge Warnung vor vergangenheitsverklärenden Narrativen erweist?
Früher war Vieles schlechter als heute, so lautet die zentrale Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Kolumnensammlung zieht. Technischen
Statistiken des Bundeskriminalamts, nach denen Gewalt von Männern gegen ihre Partnerinnen ansteigt, scheinen zunächst eine andere Sprache zu sprechen. Doch Grossman ist weit entfernt davon, die Welt nur in Rosarot wahrzunehmen, auch wenn die Zeichnung Nishant Choksis, die Grossmann auf dem Buchdeckel im rosa Bademantel zeigt, das Gegenteil suggeriert. Besser spät als nie überzeugt mit einer vernunftgeprägten Weltsicht, mit der nach einem derart missglückten Einstieg nie und nimmer mehr zu rechnen gewesen wäre. Allen, die ihr Seelenheil in einer ach so glorreichen Vergangenheit suchen, ob in den verknöcherten 50ern oder gar noch weiter zurück, führt Grossmann vor, was solchen Sehnsüchten zugrunde liegt: nichts als Zerrbilder. Wer seinen Liebsten derlei Erkenntnis zutraut, kann ihnen Besser spät als nie getrost auf den Gabentisch oder unter den Weihnachtsbaum legen.