»Streichholz und Benzinkanister«
Eine verhinderte Lesung entfacht eine mediale Debatte um Meinungsfreiheit und ein Abend im Apex über Gangsterrap, Deutschrock und popmusikalische Utopien beantwortet leider nicht alle Fragen: Göttingen erlebt in diesem Jahr einen besonders politischen Literaturherbst.
Von Oke Möller
Zwei Tage bevor Jens Balzer sein neues Buch Pop und Populismus auf dem Göttinger Literaturherbst vorstellte, erschütterte das tiefe Wummern von Kriegsgeräuschen das wohl ikonischste Wahrzeichen Göttingens, das Gänseliesel. Grund dafür war eine geplante Buchvorstellung des ehemaligen
So eindrücklich und dringlich die Aktion auch war, so sehr machte sie doch auch die geringe Gesprächsbereitschaft der Aktivist*innen deutlich, deren Parolen der Komplexität internationaler Politik sicherlich nicht gerecht wurden. Gleichzeitig erscheint die Pressemitteilung der Veranstalter*innen des Literaturherbstes überzogen, die den Protest als »Aktion gegen Rede- und Meinungsfreiheit« verurteilten. (De Maizières Lesung wird übrigens am selben Ort zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt.) Der Krieg in Syrien ist unerträglich, und eine Literaturveranstaltung bietet einen angemessenen Rahmen, um auf diesen Umstand öffentlich hinzuweisen. Das ist den Aktivist*innen auf eindrückliche Weise mitten im Herzen von Göttingen gelungen.
Kriegsminister gibt’s nicht mehrDie Art des kompromisslosen und einseitigen Protests passt sehr gut auch in das gesellschaftliche Panorama, das Balzer in seinem Werk zeichnet:
Wir befinden uns in einer Situation, in der sich unterschiedliche Teile der Gesellschaft mit unterschiedlichen Weltanschauungen und politischen wie wohl auch ästhetischen Präferenzen vollständig verständnislos gegenüberstehen.
In einer solchen polarisierten Gegenwart betont Jens Balzer, der unter anderem für den Rolling Stone und die ZEIT schreibt, die Bedeutung des Pop, dessen »regulatives Ideal« eine Kultur sein sollte, in der »die Utopie einer grenzenlosen Geschwisterlichkeit« herrsche. Eine Welt ohne »Kriegsminister, Streichholz und Benzinkanister« also?
Zurück zur einleitenden Blockade: Nachdem die Lesung unter dem Jubel der Protestierenden abgesagt wurde, verließen sie in einer Prozession hinter ihren Bannern das Alte Rathaus. Als sie gerade das Gänseliesel passiert hatten, näherte sich eine lärmende Gruppe Erstis, die frenetisch zu den Klängen von Nenas 99 Luftballons feierte. Dieses Aufeinandertreffen machte das Potential und besonders auch die Limitationen des utopischen Popsongs auf kuriose Weise deutlich. Die wohl einzige international gefeierte Pazifismus-Hymne deutscher Sprache wurde gleichzeitig zum Soundtrack des ausklingenden Protests und zum Partytrack, dessen Eingängigkeit sich auch nach über dreißig Jahren kaum jemand zu entziehen vermag.
Ich bau dir ein Schloss aus SandWie ließe sich Nenas Gassenhauer also innerhalb von Balzers Panorama der Popmusik verorten? »In seinen besten Momenten ist Pop immer ein Medium
Diese Offenheit scheint der Populärkultur 35 Jahre nach dem Erscheinen des Songs abhandengekommen zu sein, denn erst im letzten Jahr erhielten die Rapper Kollegah und Farid Bang einen Echo für ein Album, das ganz unverhohlen sexistische und antisemitische Inhalte zur Schau trägt. Die Populärkultur der Gegenwart scheint ihre emanzipatorischen Eigenschaften verloren zu haben und, wie Balzer betont, keine Safe Spaces für marginalisierte Gruppen mehr anzubieten.
Germany, ich verlass dich nie»Wo endet die Freiheit der Kunst?« Die Frage diskutierten Jens Balzer und die Soziologin Kathy Meßmer, die sich neben ihren politischen Tätigkeiten für eine Vielzahl emanzipatorischer Projekte engagiert und auch eine der Mitinitiatorinnen des #aufschrei ist. Aus diesem Grund bat die Moderatorin des Abends, die Göttinger Germanistin Janet Boatin, sie wiederholt als ausgewiesene »Internetexpertin« mit Expertise im Bereich der »Hate Speech« um die gesellschaftliche Einordnung digitaler Phänomene. Im Zentrum der Veranstaltung stand dabei Balzers neustes Werk Pop und Populismus, das jüngst in der Edition Körber erschien.
Zu Beginn umriss Balzer die Thesen seines Buches in einem Impulsreferat. Ausgangspunkt ist dabei die erwähnte Echoverleihung, die dazu führte, dass das Feuilleton Gangsterrap auf einmal nicht mehr stillschweigend übergehen konnte. Balzer versucht nachzuzeichnen, wie es dazu kam, dass sich patriarchale und reaktionäre Weltbilder in der Popkultur durchsetzen konnten. Anstatt den Rap dabei grundsätzlich zu diskreditieren, betont er die
Gangsterrap bietet somit die Möglichkeit, Unsagbares auszusprechen: Antisemitische, misogyne und homophobe Aussagen hielten auf diese Weise seit der Jahrtausendwende vermehrt Einzug in das Rapgeschäft. Gleichzeitig haben auf Seiten des Rechtsrocks und des Schlagers völkische Parolen hohe Konjunktur, wie der Erfolg der nationalistischen Deutschrocker von Frei.Wild und des Volksrock’n’Rollers Andreas Gabalier beweist. Doch solche identitären Verhärtungen beobachtet Balzer nicht nur im rechten politischen Spektrum: Der kulturelle Boykott Israels durch namhafte Popstars und auch den mit zunehmender Heftigkeit erhobenen Vorwurf der kulturellen Aneignung von fremden Kulturgütern kritisiert Balzer als linke Identitätspolitik.
So viele FragenNach der Vorstellung der zentralen Thesen hätte sich die anschließende Diskussionsrunde relativ frei entwickeln können. Balzers Kritik an dem Argument der cultural appropriation wäre sicherlich ein ergiebiger und kontroverser Diskussionspunkt gewesen. Leider entschied sich Boatin in ihren Fragen jedoch weitestgehend dazu, mehr in die Breite zu gehen und dabei sehr nah an den Kapiteln des Buches zu bleiben. Das hatte zur Folge, dass sie einige Exkurse abbrach, um einen anderen Aspekt des Buches anzusprechen. Die Fragen fielen dadurch teilweise recht forsch aus. Balzer bemerkte auf die unvermittelte Frage, was cultural appropriation sei, er fühle sich wie in der Schule, und Meßmer stichelte süffisant:
Ab an die Tafel!
Gelungen waren Boatins Fragen, wenn sie sich etwas von den Thesen des Buches entfernten und dem Flow des Gespräches folgten. Besonders glückte der Einstieg: Boatin fragte Balzer, weshalb er sich überhaupt dazu entschieden hatte, ein Buch zu schreiben. Er antworte, dass sich die Langform besser dazu eigne, komplexe Gedanken auszudrücken. Zudem ließ er durchblicken, dass er mit seinen Artikeln aus dem kurzlebigeren Zeitungsgeschäft nicht immer komplett zufrieden sei und die Buchform es ihm ermögliche, seine Gedanken zu ordnen und Ereignisse mit etwas Abstand einzuordnen. Die Bereitschaft, die eigenen Position zu überdenken und die eigene Meinung nicht bloß stoisch weiter zu proklamieren, sei heutzutage eine fast vergessene Tugend.
Irgendwie, irgendwo, irgendwannEs folgte eine interessante Debatte, die aber die Fragestellung des Abends weitestgehend links liegen ließ: Der Populismus und die Grenzen der Kunst schwangen natürlich im Subtext der Diskussion die ganze Zeit mit, wurden aber nicht explizit thematisiert. Das gesellschaftliche Panorama fiel düster aus: Balzer stellte fest, dass man schon froh sei, wenn es heutzutage ein Song ohne antisemitische Tendenzen in die Charts schaffte. Meßmer zog die neue digitale Konfliktlinie zwischen White Supremacists und den vielfältigen emanzipatorischen Strömungen der Zeit nach. Boatin fragte, ob es überhaupt noch eine Notwendigkeit für Popstars gäbe. Balzer betonte daraufhin die Bedeutung neuer Popstars wie Billie Eilish und Lizzo. Leider wurde die Diskussion in diesem Punkt nicht ganz den Ausführungen in Balzers Buch gerecht, der statt einer Abschaffung vielmehr eine reflektiertere Art des Personenkults fordert, die die fragwürdigen Aspekte von Künstler*innen nicht länger übergeht. Das käme einer Revision des dominanten Rock- und Popkanons unserer Zeit gleich, die das weitestgehend unkritisch gesehene Erbe der hedonistischen 60er und 70er Jahre deutlich ankratzen würde.
Insgesamt ging die Diskussion leider selten in die Tiefe. Der Grund war sicherlich die Vielzahl der angeschnittenen Themen, die auch zur Folge hatte, dass am Ende keine Zeit mehr für eine offene Fragerunde blieb. Vor dem Hintergrund, dass die Veranstaltung unter dem appellativen Titel »Einmischen! Pop und Populismus« stattfand, war dies besonders enttäuschend. Es wurde viel darüber gesprochen, wie der Hass Einzug in die Populärkultur hielt, aber wenig darüber, wo die Freiheit der Kunst endet. Gerade in Bezug auf diese Frage hätte die Diskussionsrunde von der Anwesenheit eines Deutschrap-affinen Menschen profitiert. Es hätte gerne kontroverser diskutiert werden können, denn die Spotify-Charts und die Absage von de Maizières Lesung zeigen, dass es reichlich Redebedarf gibt.