Wenn der literarische Herbst ein politischer wird: Der Literaturherbst hat 2018 Veranstaltungen zu Marx, der 68er-Bewegung und den Kriegen des 21. Jahrhunderts angekündigt. Von Kritik und Geschichte und der Frage nach dem Heute.
Anna-Lena Heckel
Geschichte und Politik
»Marx und die Folgen«, »68 und die Folgen« und »Der Dreißigjährige Krieg«. Dass alle drei Veranstaltungen im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes 2018 stattfanden, ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit. Marx, 68 und Dreißigjähriger Krieg. Das sind Themen, die in Geschichtsbüchern schon ihren Platz haben. Ihre gemeinsame Aktualität hingegen scheint zuallererst durch das große Jubiläumsjahr 2018 begründet zu werden: Marx‘ 200. Geburtstag, 50 Jahre 68 und 400 Jahre seit dem Prager Fenstersturz zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges finden 2018 statt.
Die Podiumsdiskussion zu den Jahren um 1968 in der BRD am 15. Oktober lässt dabei die Frage aufkommen, wie historisch ist, was hier aktualisiert wird: Für viele Bestandteil der eigenen Biographie, werden die Jahre der Revolte erst für die jüngeren Generationen immer mehr zum historischen Gegenstand. Auf dem Podium sitzen der Soziologe Klaus Meschkat und die Sängerin Katja Ebstein in der Funktion von Zeitzeug*innen und mit ihnen der Politologe Wolfgang Kraushaar, der ebenfalls selbst die Jahre um 68 als Schüler erlebt hat und sie seit Jahren als Historikum untersucht.
Bei den literaturherbstlichen Ausführungen des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler zum Dreißigjährigen Krieg am 19. Oktober wiederum liegt die Historizität auf der Hand. Auch die Veranstaltung zu Karl Marx am 17. Oktober ist eine primär historische: Ausgehend von Jürgen Neffes Marx-Biographie, geht es um den historischen Marx und seine Anwendbarkeit heute.
…und Heute!
Auch dies ist eine Gemeinsamkeit: Keines der Themen wird um seiner selbst willen als historisches Ereignis besprochen – es scheint der Organisation notwendig erschienen zu sein, hinter jedes ein »und heute« zu setzen. Bei Herfried Münklers Rede über den Dreißigjährigen Krieg ist das wenig verwunderlich. Er nutzt seine historische Analyse, um »die Kriege des 21. Jahrhunderts« zu untersuchen – die historische Dimension nutzt er methodisch als Vergleich.
Anders verhält es sich auf dem Podium zu 68. Es handelt sich um eine historische Diskussion, in der die Gesprächsteilnehmer*innen bemüht sind, möglichst viel Redezeit in Anspruch zu nehmen und in der Stephan Lohr als Moderation gern übergangen wird. Der Bezug zu 2018 scheint dabei eher angefügt als aus dem Gesprächsinhalt entwickelt. Dies war zu erwarten, denn die Kontroverse, die schon seit 2005 zwischen Klaus Meschkat und Wolfgang Kraushaar anhält, ist die der Bewertung der Militanz-Frage und des Zusammenhangs der 68er-Bewegung mit der RAF: »Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen?«
Konsequenterweise diskutieren die beiden vornehmlich miteinander darüber. Erst nach einer Stunde Diskussion wendet sich Stephan Lohr auch mit einer Frage an Katja Ebstein. Nicht nur dieser Umstand, sondern auch Katja Ebsteins äußerst zweifelhafter Redebeitrag (der weiter unten ausführlich zu erläutern ist) weisen darauf hin, dass die Zusammensetzung des Podiums in Verbindung mit dem Anspruch der Veranstaltung eher unglücklich war.
Von kritisch bis kritikwürdig. Ambivalenzen
Mindestens ironisch mutet es an, dass Wagenknecht sich wie erwähnt inszeniert und sich zuweilen als Heilsbringerin, dann wieder als Beobachterin der parlamentarischen Demokratie, »der Politik«, entwirft. Bitter erscheint dies vor dem Hintergrund, dass Wagenknecht sich bekanntermaßen in der jüngeren Vergangenheit damit hervorgetan hat, Anschlussfähigkeit in der Bevölkerung durch Befeuerung rassistischer Ressentiments zu suchen. (Hier ein Kommentar in der Konkret.)
Gerade in diesem Kontext ist es bedauerlich, dass in der Diskussion um »Marx und die Folgen« keine Marxist*innen Erwähnung finden, die weder Stalin noch Lenin sind oder waren, und auch nicht den Kapitalismus in Querfront-Manier kritisieren, sondern das Erbe der Marx’schen Ideen prägen und forttragen. Marxist*innen und Materialist*innen wie David Harvey wären da zu erwähnen, ebenso wie Bini Adamczak, Silvia Federici oder Antonio Gramsci. Doch hörte man vor allem Wagenknecht und Neffe auf dem Podium zu, scheinen diese nicht zu existieren.
Gewinnbringend kritisch tritt Herfried Münkler auf, der seine Methode des Vergleichs im Gespräch mit Theo Geisel (MPI) erläutert. Er unterscheidet zwischen Strukturen und Inhalten des Dreißigjährigen Krieges und der jetzigen Kriege in Syrien und dem Jemen. Abwägend fragt er immer wieder nach der Anwendbarkeit der Strategien des Westfälischen Friedens auf die heutige Situation.
Die Diskussion um 68 steht durch Kraushaars Buch Die blinden Flecken der 68er-Bewegung ohnehin unter dem Stern der Kritik. Wenn Kraushaar Rudi Dutschke und die Frage der Militanz in der Bewegung kritisiert, bleibt zwar – ebenso wie in seinem Buch – fraglich, weshalb es sich hier um »blinde Flecken« und nicht um Verfehlungen handeln soll. Abgesehen davon wird auf dem Podium über die Person Dutschke ebenso kritisch und aus mehrerlei Perspektiven gestritten wie um Fragen zu politischen Organisationsformen. Dabei steht »der Rudi« eindeutig im Zentrum der Diskussion, kann man seine Rolle doch laut Kraushaar »gar nicht groß genug einschätzen«. Dieser durchaus gewinnbringenden Debatte tut letztlich die bemühte Frage nach dem Heute erheblichen Abbruch. Nach Katja Ebsteins oben erwähnter Stunde des Schweigens reißt sie das Wort an sich, schimpft zunächst über die Neonazis auf den Straßen von Chemnitz und die Misere des Verfassungsschutzes. Bis sich das Blatt – oder eher Ebstein – wendet und nahezu völlig entkontextualisiert eine Tirade rassistischer Hetze von sich gibt: Die Toleranz habe Grenzen, sie kenne ja »die Flüchtlinge«, sie habe selbst mit »welchen« zutun. Aus dem Publikum erheben sich kritische Stimmen, die vollkommen zurecht fordern, sie möge ihren Beitrag beenden. So endet der Abend, der zunächst von Ebstein durch ihre salopp eingeworfenen Wahrheiten – »Es gab ja keene Entnazifizierung!« – aufgewertet worden war, in der Einsicht, dass, wie Ebstein in den Siebzigern sang, »im Leben, im Leben mancher Schuss daneben« geht.
Wohin mit dem Heute?
Was bleibt von drei Abenden, die die Frage nach dem »Was bleibt?« stellten? Es ist die Erkenntnis, dass, egal, wie viel Marx jemand gelesen, wie viel Engagement jemand einst im Leben gezeigt hat, die politische Reflexion nicht enden darf. Es ist die Erkenntnis, sich nicht zu verlassen auf vermeintliche Wahrheiten oder das Erreichte und kritisch zu bleiben mit Blick auf das Gestern, das Heute und das Morgen.