Günter Blambergers neue Kleist-Biographie stellt uns Kleist als einen »Projektemacher« vor, der als adeliger Künstler zwischen Beruf und Berufung steht. Indem verschiedene Autorbilder miteinander kombiniert werden, gelingt eine moderne Sichtweise auf Kleist, meint Kevin Kempke.
Von Kevin Kempke
In einer Zeit, wo Lebensläufe möglichst gerade zu sein haben, um auf gesellschaftliche Anerkennung zu stoßen, muss jemand, der keinen festen Plan hat, der sich irgendwie durchschlägt und das Abenteuer sucht, zwangsläufig aus dem Raster fallen. Der neuen Kleist-Biographie von Günter Blamberger (seines Zeichens Präsident der Kleist-Gesellschaft) zufolge, war Kleist ein solcher Mensch, den man damals abschätzig als »Projektemacher« bezeichnete. Unstet sei Kleist gewesen, ständig habe er neue Projekte angeschoben, situativ gehandelt, sich den Gegebenheiten angepasst und trotz zahlreicher Rückschläge immer wieder Neues probiert, bevor er endgültig zusammenbrach und seinem Leben ein Ende setzte.
Die Kreativität der KrisenDer Drang zur Schriftstellerei stellt sich bei Kleist erst recht spät ein, weil zunächst gewisse Hürden aus dem Weg geräumt werden mussten, die, wenn man Blamberger glauben darf, vor allem darin bestanden, dass es Kleist zu gut ging. In seiner Jugend war er überzeugter Idealist, sein Weltbild war ungebrochen und in bester Ordnung. Nur: Wer mit sich und der Welt im Reinen ist, fängt selten das Schreiben an. So muss Kleist erst zwei Krisen durchlaufen, bevor er sein Potential verwirklichen kann. Auf das idealistische Streben nach dem Absoluten folgt die Melancholie bei der Einsicht, dass das Absolute unerreichbar ist. Die berühmte Erkenntniskrise, in die Kleist nach seiner Kant-Lektüre fiel, wird zur Grundlage seiner Schriftstellerei. Dass Kleist die Philosophie Kants wahrscheinlich gar nicht genau genug gelesen und infolgedessen missverstanden hat, spielt dabei keine Rolle. Die Krise ist hausgemacht, stellt für Kleist aber die Voraussetzung schlechthin für Kreativität dar. Er geht über die Melancholie und das verzweifelte Sich-Klammern an einen imaginierten Zustand der Totalität hinaus und macht die Krise zum Motor seines Schaffens.
Missverständnisse, die sich aus den unterschiedlichen Erwartungen der Beiden ergeben, erzeugen schnell eine bedrückende, der Beziehung nicht förderliche Atmosphäre. So ist es nicht verwunderlich, dass dieser Liebe keine lange Dauer beschert war. Klar wird allerdings auch: Die Erfahrung einer beengenden und unglücklichen Liebesbeziehung setzt in Kleist kreative Kräfte frei, die zwar notwendig zum Scheitern des Verhältnisses führen müssen, ihm aber zu der Selbsterkenntnis verhelfen, dass die Schriftstellerei die ihm gemäße Lebensform ist. 1803, 26-jährig und nur acht Jahre von seinem Tod entfernt, schreibt Kleist dann erst sein Debüt Die Familie Schroffenstein.
Damit ist die Grundlage gelegt zu einer intensiven Dichter-Karriere, in der Meisterwerke der deutschen Literatur wie Die Marquise von O…, Der zerbrochene Krug oder Penthesilea entstehen. Mit der Verwirklichung der dichterischen Ambitionen tut sich Kleist im Hinblick auf seine gesellschaftliche Stellung freilich schwer: Seine adelige Herkunft zwingt ihn dazu viele Rücksichten zu nehmen. In den Kreisen, in denen er standesgemäßerweise verkehrt, verursacht seine literarische Betätigung Argwohn. Kleist versucht immer wieder in der Berufswelt Fuß zu fassen, sei es als Wissenschaftler, Soldat oder Beamter, das Resultat ist immer das Gleiche: Flucht und Hoffnung auf ein neues Projekt. Der Hang zur Kunst und schriftstellerischer Entfaltung ist bei Kleist immer legitimationsbedürftig, wie so viele Künstler vor und nach ihm steht er zwischen Beruf und Berufung. Das führt zu Stimmungsschwankungen, die Kleist bevorzugt an seinem Mitmenschen auslässt, seien es Verwandte oder Freunde.
Der aggressive MelancholikerAus Blambergers Ausführungen lassen sich einige Hauptlinien kondensieren, die das von ihm entwickelte Kleist-Bild bestimmen: Niedergeschlagenheit und Melancholie auf der einen, Agressivität und Kampfeslust auf der anderen Seite sind die Pole, zwischen denen sich Kleist bewegt. Interessant ist, dass sich in dieser Kleist-Darstellung Merkmale von Autorbildern aus mehreren Jahrhunderten finden lassen. Da ist zum einen die Melancholie, ein nicht erst seit der Romantik fest etabliertes Künstler-Merkmal, damit einhergehend die Todessehnsucht und der Hang zum Fatalismus. Wie bei jedem echten Melancholiker gehen auch bei Kleist Liebe, Leid und Literatur eine Symbiose ein. Zum anderen ist da die Gerissenheit, mit der Kleist im literarischen Feld agiert und die ihn zu seinem größten Coup anstachelt, der wahrhaft dichterischen Inszenierung seines Selbstmordes, mit dem er bezweckte, wenigstens in seinem Tod den Ruhm zu erfahren, der ihm Zeit seines Lebens meist verwehrt blieb. Mit Erfolg, die Rezeptionsgeschichte beweist es. Zur Melancholie passt allerdings auch der agonale Geist nicht, der Kleist im Leben wie in der Literatur beherrschte. Dichterische Inspiration aus dem Verlust einer Totalität zu gewinnen, erinnert dagegen an Poetiken des beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihrer »transzendentalen Heimatlosigkeit«.
So verbindet Blamberger in seinem Kleist-Bild konventionelle, aber mit neuen Inhalten angereicherte Bilder wie das des »Vorfechter[s] für die Nachwelt«, mit modernen Perspektiven, die häufig eine intendierte Außenwirkung als Motiv hinter Kleists Aktionen plausibel machen, wo von der älteren Forschung wild psychologisiert wurde. Auch wenn es sicherlich etwas übertrieben ist mit dem Klappentext von der »definitiven Biographie unserer Zeit« zu sprechen, wird hier ein Bild entwickelt, das mit Recht als zeitgemäß bezeichnet werden kann. Dazu passen auch Blambergers abschließende Überlegungen zur Postmodernität Kleists. Und als ob das noch nicht ausreichen würde, um uns davon zu überzeugen, dass dieser Kleist wunderbar in unsere Zeit passt, braucht man nur das Anfangsbild noch einmal aufzunehmen: Heute ist »Projektemacher« sicherlich kein Schimpfwort mehr.