Die Live-Performance von Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst beim Literaturherbst stemmt einen multimedialen Kraftakt, der den Zuschauer:innen schonungslos einen Spiegel vorhält. Das Anschauen lohnt in jedem Fall, ist aber nichts für jene, die Selbstreflektion scheuen.
Von Marleen Knipping
Brauchen Autor:innen-Lesungen soziale und physische Nähe? Leben sie von diesen Momenten des Miteinanders, wenn Lesende und Hörende im Raum, Text und Empfindung zusammenkommen, interagieren, sich beeinflussen – miteinander lachen, wippen, stöhnen, schnipsen, fühlen? Die in den letzten Monaten recht populär gewordenen Liveübertragungen von Lesungen haben mit ihren statischen Kameras, die stur auf die Autor:in und die am unteren Bildrand erscheinenden Schemen des spärlich gesäten Publikums gerichtet werden, immer auch gezeigt, dass da gerade etwas fehlt: die Nähe, die Verbindungen. So erreichen uns die Stimmen der Lesenden nicht unmittelbar, sondern gefiltert durch die doppelte Barriere der Kamera und des Bildschirms. Der Text bleibt irgendwie leblos, ein »feedback loop« will sich nicht entwickeln. Ganz anders an diesem Herbstabend am 26. Oktober 2020. Die multimediale Live-Performance von Olivia Wenzels Debütroman 1000 Serpentinen Angst ordnet sich erst gar nicht ein in den Reigen »typischer« Lesungen. Als Performance, die sowohl medial als auch inhaltlich einiges auf dem Kasten hat, spielt sie mit den Tools der Streaming-Technologien, um die isolierten Zuschauer:innen mit sich selbst zu konfrontieren.
Bereits nach einigen Minuten ist klar, dass dieser Event des Literaturherbstes, gestaltet von Banafshe Hourmazdi, Minh Duc Pham, Malu Peeters und Olivia Wenzel, einem ganz eigenen Schema folgt. Ungewöhnlich ist von Beginn an die bewegliche, wackelige Kamera, die immer nur kurz auf die Autorin des Romans gerichtet ist, dann sofort abschwenkt, um Wenzels Co-Performer:innen zu fokussieren. Hier, so der Subtext, steht nicht nur eine Person im Vordergrund, wenn sie auch eine mit ihrem Debütroman für den Buchpreis nominierte »Bereicherung für die deutsche Gegenwartsliteratur« sein mag.
Sehen, Übersehen, WegsehenWie es im dreistimmig intonierten musikalischen Auftakt dieser Veranstaltung anklingt, dreht sich der Event um viele »voices«, um »you and I«. Der Einschluss auch der hinter ihren Endgeräten versteckten Zuhörer:innen wird nicht nur in diesem Sprechakt angekündigt, auch regen die Performer:innen den Austausch mit den nunmehr zumeist digital Anwesenden an: hier ein scheuer, testender Seitenblick zur Kamera, da ein direktes, forderndes Starren in die Linse. Diese Betonung der ersten, eindringlichen Blicke ist programmatisch, denn auch in Wenzels 1000 Serpentinen Angst geht es immer wieder ums Schauen und Angeschaut-werden: Die Ich-Erzählerin beobachtet Bahnhofspassant:innen mal aus dem Snackautomaten, mal durch die spiegelnde Zugscheibe hindurch. Sie wird übersehen, oder, wenn doch gesehen, nach Hautfarbe kategorisiert und kann auch ihr eigenes Color-Coding nicht abschalten. Im Roman wird der Blick der Leser:innen wiederholt auf alltägliche Whitewashing-Praktiken gestoßen, aber auch – nicht zuletzt durch Wenzels Prosa, die filmisches Sehen emuliert – das gesellschaftlich normalisierte Wegsehen entmutigt.
Die Performance dieses Herbstabends knüpft hier nicht nur an das Buch an, sondern perfektioniert die bildhaften Vorlagen durch das Spiel mit Kamerabewegung, Aufnahmeabständen und Perspektivwechseln. Während des Events zeigt uns die Kamera wiederholt die Gesichter der Performer:innen in fast unangenehm nahen Nahaufnahmen und offenbart so intime Details, die eigentlich Partner:innen und Sexpartner:innen, vielleicht der Familie vorbehalten sind: Hautoberflächen, Strukturen, Härchen, Falten, Mikromimik. Die Nahaufnahmen sollen sicherlich suggerieren, dass da unter der Oberfläche dieser Gesichter eine unsichtbare und nicht auf physiognomische Merkmale reduzierbare Vielschichtigkeit liegt, aber berührender ist, dass diese unbehagliche Nähe einen Prozess der Selbstreflektion anschiebt. Die streamenden Zuschauenden, deren Blick durch die von der weißen Performerin geführten Kamera auf die Schwarze Haut von Olivia Wenzel gelenkt wird, werden gezwungen zu starren, zu urteilen, und sich mit ihrem eigenen Akt des Sehens auseinanderzusetzen – die eigenen Rassismen zu konfrontieren. Diese Metaebene lässt sich gar nicht vermeiden, da dieser wertende Blick wiederum nicht unbeobachtet bleibt: Durch das Springen zwischen unterschiedlichen Kameras sieht sich das Publikum beim Schwarzweißsehen zu.
Stimmen, Bestimmend, VerstimmtDie Auseinandersetzung mit den eigenen Seh-, Denk- und Gefühlsstrukturen wird in 1000 Serpentinen Angst durch ein im Buch mithilfe von Majuskeln und Kursivierung visualisiertes Spiel mit Perspektivwechseln geschaffen. Durchgehend fühlt sich die Erzählerin des Romans selbst auf den Zahn und fordert die laute Aussprache des oft lieber Verschwiegenen:
In der Wahlnacht saß ich in einer Bar in Manhattan, nur wenige Blocks von Trump und Clinton entfernt.
WEITER, WEITER.
Ich unterhalte mich mit britischen Managern von Shell, wir sind besoffen und guter Dinge.
Cheers!
Ich habe mir Toleranz vorgenommen, will sie nicht verurteilen. Überraschend angenehme, eloquente Männer; wir kommen gut miteinander aus. [. . .] Kee-nic ist euphorisiert. This is amazing, wiederholt er immer wieder in British English, seine tiefe Stimme und die wohlklingende Sprache des ehemaligen Kolonialreichs ziehen mich an.
WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?
…
WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?
Und seine ›Ethnie‹.
WAS?
Seine ›Ethnie‹ zieht mich an. Aber es ist mir unangenehm das so zu sagen. Oder zu denken.
WARUM?
Während ihrer Herbst-Performance übersetzt sich dieses Zusammenspiel von Aussage, Selbstreflektion und Sprechakten von kurz auftauchenden Statist:innen wie Kee-nic in eine dialogische, durchchoreografierte Lesung, die Fragen nach der Position und den Privilegien der Sprechenden aufwirft und an so einige Klassiker der U.S.-amerikanischen Literatur, von Ralph Ellisons Invisible Man zu Claudia Rankines Citizen: An American Lyric, anknüpft. Das Wechselspiel der Stimmen suggeriert nicht nur, wie auch im Buch, eine Auseinandersetzung mit sozialisierten Meta-Gedanken, einschließlich der post-race Verweigerung von »›Ethnie‹«- Kategorisierungen. Vielmehr untermalt die Performance, dass BPOC Stimmen oft nicht gehört, gebleicht oder verzerrt werden.
Durch die Positionswechsel und die sinnig verkörperte Darstellung eines vielschichtigen und konfliktreichen Ichs werden an diesem Abend auch die Rezeption des Romans und der Autorin kritisch hinterfragt, um die post-race-Illusion unserer Gesellschaft, insbesondere auch des deutschen Literaturbetriebs, bloßzustellen. So dröhnt in einer Audiosequenz, die Stimmen zum Buch in einer Collage zusammenführt, ein verstörender Blurb der fast schon lehrbuchmäßig stereotypisierenden Elke Heidenreich aus den Lautsprechern:
Ich finde alles, was sie in diesem Buch schreibt, gut, wie sie den alltäglichen Rassismus beschreibt, worüber wir gar nicht nachdenken. . . . Aber erzählerisch hat mich dieses Buch nicht gepackt. Ich habe das Gefühl, es ist wie eine Materialsammlung. Nun muss ich gestehen, ich bin auch kein Freund von Rap. (Meine Hervorhebung)
Wie sieht’s nun also aus mit dem eigentlich für Autor:innenlesungen charakteristischen Gemeinschaftsgefühl, diesem sonst oft so netten Miteinander? Die Lesung von Wenzels 1000 Serpentinen Angst demaskiert dieses Miteinander als Komposit blinder Flecken. Ein Gemeinschaftsgefühl wäre zwar sicherlich schön, so die Message dieses Events, aber so lange BPOC in der (deutschen) Gesellschaft ungesehen und ungehört bleiben, hat es wenig Sinn, diese Illusion noch weiter zu schüren. In einer Zeit, in der das Sehnen nach anderen besonders groß ist, legt diese Performance den Finger also bewusst in die eh schon klaffende Wunde der Isolation und fordert erst einmal die Auseinandersetzung mit den eigenen Denkstrukturen und Verhaltensmustern. Dass das gut gelingt, weil hier die medialen Mittel der Übertragung kreativ eingesetzt werden, ist nur das icing on the cake.