Georges Perecs Roman Das Attentat von Sarajevo, jüngst aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, ist in erster Linie die Charakterstudie eines Besessenen. Nur am Rand geht es um die Schüsse von 1914 auf Franz Ferdinand und dessen Gattin. Gerade die Passagen hierzu geben Rätsel auf.
Von Stefan Walfort
»Wir legten uns nebeneinander aufs Bett, wie zwei Leichname im Grab […], niemals hatte das Wort Paar so viel Sinn und wird ihn, glaube ich, auch nie wieder haben. Nie mehr.« Georges Perecs Romane sind von einer Bitterkeit angereichert, wie es sie in der Literaturgeschichte kein zweites Mal gibt. Oft fühlt man sich bei Perec an Schopenhauers Definition von Glück ex negativo erinnert – als Abwesenheit von Schmerz, beispielsweise wenn man in Ein Mann der schläft (der Roman ist konsequent in der 2. Person Singular geschrieben) nachts durch die Straßen irrt wie getrieben, von einer inneren Leere gepeinigt. Dass die Hoffnung, sie füllen zu können, noch nicht verdampft ist, darauf deuten nur wenige flüchtige Momente hin.
Doch in Das Attentat von Sarajevo ist etwas anders. Die eingangs zitierten Zeilen evozieren ein verstörend todessehnsüchtiges Bild. Der Zustand des Erzählers, der es entwirft, wirkt von der ersten Seite an desolat. Bis zum Schluss bleibt etwas davon übrig, wie so häufig in Perecs Prosa. Nur wie viel davon ist diesmal echt? Der namenlose Attentat-Erzähler gibt retrospektiv – im Präteritum – Auskunft, wie er einst Mila hinterherjagte, einer bereits anderweitig liierten Frau, und er reflektiert mit einigem Abstand – im Präsens – darüber, was er heute anders handhaben würde und was er aus seiner Sicht genau richtig gemacht hat. In seinem Leben habe es, so behauptet er, nur einen einzigen Augenblick der Zuversicht gegeben. An ihm versuchte er sich umso verbissener aufzurichten. Er dauerte drei Sekunden: In denen gewann er den Eindruck, dass Mila ihre Liebe zu Branko, dem
Sie, Mila, als eigenständiges Individuum anzuerkennen, davon ist der Erzähler weit entfernt. Wiederholt kommt eine misogyne Grundhaltung zum Vorschein. Zu ihr gesellt sich eine ausgesprochen narzisstische: »Keine Frau, weder vor ihr noch nach ihr, hat mir je dieses Gefühl von Präsenz vermittelt«, so degradiert er Mila zur Stütze seines Egos. Und als er seinen Aufbruch mit dem Zug gen Sarajevo, um Branko aufzusuchen, schildert, kommt es zu einer hochgradig symptomatisch zu verstehenden Aussage: Innen, hinter der Zugscheibe, sei alles, was er seitens der auf dem Gleis sich verabschiedenden Mila habe wahrnehmen können, ihr »Gesicht [gewesen], das etwas rief, das ich nicht mehr hören konnte«. So gut wie nie kommt Mila zu Wort. Sie betrachtet er nur als »Besitz«, wie er offen einräumt, als »Engel der Stille« und als Gewinn im »Spiel gegen Branko«. Ihn zitiert und paraphrasiert der Erzähler hingegen ausgiebig.
Auf den ersten Seiten nennt er Branko noch einen »Freund«, dabei ist längst klar geworden, dass er ihn am liebsten von hinten sieht. Das unterfüttert er im Folgenden fleißig. Dabei schält sich immer mehr die fixe Idee heraus, Mila müsse Branko eigentlich verabscheuen. Mordgelüste hatten sich im Kopf des Erzählers verfestigt:
Ich betrat ein Kino. […] Die Hauptdarstellerin hatte keine Ähnlichkeit mit Mila, der Bösewicht hingegen hatte exakt Brankos Fresse. Als er endlich eine Kugel im Bauch hatte, ging ich raus.
Mit Hilfe Annas, Brankos Ehefrau, für den Erzähler der »Schlüssel zu den Problemen«, habe er Branko beseitigen wollen – ein »auf wenig plausible Art eingeleitete[s] Attentat«, wie Claude Burgelin, der Verfasser eines zehnseitigen Nachworts, anmerkt. Dafür entbehren die Fantasien des Erzählers nicht einer gehörigen Portion Komik, wenn er schildert, wie er sich ohne Wenn und Aber alle Einzelheiten des Komplotts als reibungsloses Ineinandergreifen zurechtlegt habe: »Vor meinem geistigen Auge zeichnete sich das Attentat schon in groben Zügen ab: in Anna eine wilde Eifersucht entfachen, ihr ein künftiges Leben ohne Branko vor Augen halten, Branko als hinterlistigen Schuft darstellen, als Lügner, dann Mila nach Sarajevo bestellen, eine Begegnung zwischen ihr und Branko in Annas Gegenwart arrangieren« – auf dass sie ihn erschieße. Und so ist es, da hat Burgelin recht, »kein deprimierter Tonfall, der von diesem Buch ausgeht« – zumindest nicht durchweg.
Nähe durch DistanzDas Attentat von Sarajevo eignet sich hervorragend zum Studieren, wie »offen unzuverlässiges Erzählen« (Köppe, Tilmann/Kindt, Tom: Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014) in Anwendung ausschauen kann. Zu einem Typen wie dem Erzähler passt, dass er keinen Hehl daraus macht, zu lügen. Zudem verweist er von der ersten Seite an ständig auf Lücken, die seine Erinnerung angeblich trüben. Damit changiert seine Version der Dinge (die einzige, mit der die Leser*innen sich abzufinden haben) zwischen einem unbedingten Willen, andere zu manipulieren, und Selbstkritik. Nur warum sollte er nicht auch letztere in den Dienst des erstgenannten stellen? Neigt er doch dazu, generell alles und jede*n rein instrumentell für seine Zwecke einzuspannen. So jemandem würde man nicht einmal Tränen beim Begräbnis seiner Mutter abkaufen; sofort müsste man denken, es wären Zwiebeln im Spiel gewesen.
Die Distanz gegenüber der literarischen Figur schafft eine Nähe, die wir im realen Leben bei einer solchen Person niemals zulassen würden. Hier, in der erzählten Welt, fasziniert sogar, wenn der Erzähler seine miesesten Eigenschaften auf Branko projiziert. Oder erfreut uns nur, dass wir ihn durchschauen? Ihn und seine ungeheure Geltungssucht? Mit ihr kommt eine Parallele des Erzählten mit den Geschehnissen von 1914 mit hinein (wie alle weiteren in dem Buch spielt sie nur am Rand eine Rolle): Aus irgendeiner Laune heraus, für die Leser*innen nicht nachvollziehbar, habe der Erzähler Gefallen daran gefunden, in sich selbst eine Art Wiedergänger Gavrilo Princips zu erblicken, des Mörders, der am 28. Juni den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin erschoss:
Für mich war Sarajevo ein kleiner Marktflecken, in dem ein König, oder vielleicht ein Prinz, der zufällig dort vorbeigekommen war, sich brav hatte umbringen lassen, und dies aus Gründen, die mir unbekannt waren, aber ein gewisses Gewicht gehabt haben mussten, denn dieses Attentat löste den Krieg aus. Sollte das Attentat, das ich mir ausdachte, auch solche Konsequenzen haben?
Derlei Vorstellung von Omnipotenz steht in losem Zusammenhang mit wenigen Auszügen eines, so Burgelin, »imaginäre[n] Plädoyer[s], gehalten vor wer weiß welchem Gerichtshof«. Genau so rätselhaft bleibt, wer überhaupt spricht, so könnte man hinzufügen. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich heute vor Ihnen das Wort ergreife, so tue ich dies, um mich gegen gewisse fälschliche und abwegige Interpretationen zu wehren, die das Attentat betreffen, das am 28. Juni 1914 […] verübt worden ist«, so heißt es in einem Prolog. Aber wer ist überhaupt das »Ich«, das sich hier zu Wort meldet und im weiteren Verlauf eine eigene Sicht auf die Julikrise präsentiert? Ist es der gleiche Erzähler mit dem Branko-Spleen, wie er mit ähnlichem Scheuklappenblick den Mord an Franz Ferdinand und dessen Frau zu einem »in seinen Auswirkungen[!] eine[n] der größten, ein[en] der schönsten, eine[n] der nobelsten […] Augenblicke, in denen die Geschichte zum Epos aufschließt«, verklärt?
Man wird nicht schlau darausUnmittelbar nach dem Kapitel über Anna und die Hoffnung, sie werde den untreuen Branko abmurksen, taucht eine Interpretation des 28. Juni 1914 auf. Sie enthält kurze Schilderungen Trifko Grabež’, eines Mitverschworenen Princips. Laut Burgelin sind sie einer Monografie des Historikers Albert Mousset entnommen. Im Präsens eingeleitet suggerieren sie, man sei mittendrin im Geschehen, Augenzeug*in des Mordes an Franz Ferdinand und dessen Frau. Und auf einmal stellt eine »Ich«-Erzählinstanz fest: »Die außergewöhnliche Verkettung der Umstände, die das Attentat erst ermöglicht haben, ist bemerkenswert.« Bei einem Verbrechen dieser Größenordnung sind demnach Zufälle einzukalkulieren – Zufälle, die dem Hang des Erzählers zur Berechnung missfallen dürften. Handelt es sich um einen Selbstkommentar über die eigene Blauäugigkeit in puncto Branko, Anna und die Folgen der Eifersucht? Um eine erste Einsicht und den ersten Schritt zur Umkehr? Immerhin findet der Mord an Branko, so viel darf verraten werden, letztlich nicht statt.
Man wird nicht recht schlau aus alledem. Jedoch ist gerade das durchaus als Stärke zu werten; der Roman stellt den Konstruktionscharakter von Geschichtsschreibung und Erinnerung überhaupt aus und hinterlässt jede Menge Anschlussfragen. 1957, als Perec im Alter von 22 Jahren den, so Burgelin, »unter Hochdruck […] einer befreundeten Stenotypistin« diktierten Roman bei Verlagshäusern einreichte, hielt sich die Einsicht in die Qualität noch in Grenzen. Niemand wollte ihn drucken. Erst 2016 erschien Das Attentat von Sarajevo erstmals im Französischen.
Bei aller Selbstverständlichkeit, mit der Burgelin Perec einen »angehenden großen Schriftsteller« nennt, dürfe klar sein: Erst aus heutiger Sicht, da Perec inzwischen als einer der wichtigsten französischen Autoren der Nachkriegszeit gilt, dürfte Burgelins Wertung kaum mehr auf Widerrede stoßen. Neben Ein Mann der schläft ist auch W oder die Kindheitserinnerung unbedingt zu empfehlen, ein Hybrid aus Autobiografie und Roman, in dem wiederum ein offen unzuverlässiger Erzähler von einer Insel berichtet, auf der ein Gewaltregime regiert, das die Einwohner*innen durch Wettkämpfe zermürbt und an das Konzentrationslagersystem des Nationalsozialismus erinnert. Das Attentat von Sarajevo ergänzt den nunmehr 17 Titel umfassenden Perec-Bestand des Diaphanes-Verlags als eine weitere zweifellos große Bereicherung für den deutschsprachigen Büchermarkt.