Der Literaturherbst hatte dieses Jahr zum Mauerfall-Jubiläum auch Veranstaltungen zur DDR in petto. Wolf Biermann stellte nicht ganz überzeugt sein Buch Barbara. Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten vor und eine Edition der Stasi-Berichte von ’89 lud zur Diskussion ein.
Von Felix Keutel
Als Biermann verkündet, dass er an diesem Abend seine Gitarre nicht dabeihat, geht ein enttäuschtes »Ohhh!« durch das Große Haus des Deutschen Theaters. Der Liedermacher würde natürlich lieber singen, aber er habe sich eben mit seinem neuen Buch zum Prosaschreiben »verleiten lassen«.
Barbara. Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten besteht aus selbsterlebten Geschichten, also eher Anekdoten, die er nicht in seine vor einigen Jahren veröffentlichten Memoiren (Warte nicht auf bessre Zeiten! von 2016) aufnehmen »durfte«, wobei er auch zum Schreiben seiner Autobiographie eher »gebracht wurde«. Biermann, so wird an diesem Abend deutlich, ist und bleibt Liedermacher, die Prosa aber ist seine große Liebe nicht. Ob ihm diese wirklich geglückt ist, hat er selbst Zweifel: »Prosa schreiben – kann jeder. Poesie – ist schwerer. Aber am schwersten ist: gute Prosa.«
Peinlich berührtEinen Eindruck vom Buch gibt Manuel Soubeyrand, Theaterintendant und Ziehsohn Biermanns: Er liest »Garance comme une fleur«, eine Geschichte kurz nach dem Mauerbau über eine Affäre des jungen Biermanns mit einer
Neben solchen Geschichten handeln viele von bekannten Figuren, die Biermann in seinem Leben, vor allem in Ost-Berlin oder Hamburg, getroffen hat, so wie Manfred Krug und Ekkehard Schall. Gleichberechtigt aber erzählt er auch von so Originalen wie dem Kohlen-Otto, der in den Knast kommt, weil er der Nomenklatura den Hitlergruß entgegenlallt, oder Monika vom Hinterhof, die ihrem Mann ein Buttermesser in den Rücken jagt.
Dem Publikum gefällt’sDer Gehalt des Buches ist vor allem anekdotischer Natur. Die drollige, eifrige Prosa spart nicht mit Ausrufezeichen und lässt kein Wortspiel links liegen (»Ihr Kerl hatte schöne Locken. Locken konnte der die Weiber mit seinem glühenden Menschheitsretter-Gesicht. Und sie lockte ihn mit ihrer lockeren Zunge.«). Das wirkt oft angestrengt. Und dadurch, dass es eben Geschichten aus dem Leben sind, sind die Pointen auch eher sensationalistisch als poetisch. Was man stattdessen behält, ist: Aha, das hat Biermann also auch erlebt. Aber braucht es dazu der Niederschrift in einen eigenen Geschichtenband, für diese klanglich aufgeputzten B-Seiten seiner Memoiren?
Für solche Geschichtchen eignet sich doch viel mehr ein Interview. Oder eben ein solcher Abend. Statt »Prosa-Quasselei« möchte Biermann auch sichtlich lieber entertainen. Er entfernt sich vom Moderator Andreas Öhler, der Feuilleton-Garnitur aus schwarzen Ledersesseln und dem obligatorischen Beistelltisch mit aufgestelltem Buch und tritt nach vorn auf die Bühne. Dort erzählt er Anekdoten u. a. über Jurek Becker, über die DDR und die Repressionsstrategien der Stasi, er stimmt ein Lied an, er witzelt, verstellt die Stimme, posiert, zieht Grimassen, und das Publikum hört zu und kichert mal brav zu dem manchmal etwas trotteligem Gebaren oder lacht ganz ehrlich auf.
Am Ende zeigt Biermann doch noch sein lyrisches Können und trägt seine, schon von Todesgedanken getragene, »Bilanzballade im 80. Jahr« vor. Warum eigentlich nicht gleich so? Und er verspricht wieder zu kommen. Dann mit seiner Gitarre.
Die DDR im Blick der StasiRuhiger und nüchterner als bei Biermann geht es dagegen in der Paulinerkirche zu. Zur Veröffentlichung von Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1989 spricht Antonie Rietzschel mit den maßgeblich am Buch Beteiligten Daniela Münkel, der Herausgeberin und Projektleiterin der Behörde des BStU (Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik), und Martin Stief, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Projekts. Als Ersatz für den Behördenleiter Roland Jahn, der an diesem Abend verhindert ist, schließt sich als Zeitzeuge zudem der Bürgerrechtler Uwe Schwabe an. Anhand einiger ausgewählter Berichte (die leider nicht im Band enthalten, aber online zugänglich sind) lässt die Gesprächsrunde das Jahr des Mauerfalls Revue passieren.
Wahlfälschungen und SelbstvergewisserungEin zentrales Ereignis für die erste Hälfte des Jahres war die Kommunalwahl vom 7. Mai. Auf dem Cover des Buchs sieht man noch Honecker grinsend seine Stimme abgeben. Eigentlich sollte die Wahl im Jahr des 40. Jubiläumstags der DDR ein Zeugnis für die Gefolgschaft der Bevölkerung sein – stattdessen wurde sie aber zu einem Beweis für Wahlfälschungen.
In den Berichten spiegelt sich diese Aktion in Versuchen der Selbstvergewisserung wider, so Münkel. Ein Bericht vom Juli etwa, ein paar Wochen nach den Kommunalwahlen, listet akribisch die Oppositionsgruppen und deren Mitglieder auf. Vermitteln sollte der Bericht vor allem das Gefühl: ›Wir kennen jeden‹ und ›Es besteht keine Gefahr‹. Da viele Gruppen unter dem Dach der Kirche standen, verwundert es nicht, dass dieser auch ein großer Teil der Berichte gewidmet sind.
Auch Uwe Schwabe, der Mitbegründer des Oppositionsbündnisses Neues Forum war, begann sein Engagement in einer Gemeinde in Leipzig. Er berichtet, wie er dort erst auf Gleichgesinnte getroffen ist und wie ihm diese Treffen zu einer »Schule der Demokratie« wurden. Er gründete seine eigene AG außerhalb der Kirche und fiel schon bald der Stasi auf. Dass er später Anfang des Jahres ’89 für eine Flugblattaktion zu zweieinhalb Jahren verurteilt, aber schon nach zehn Tagen wieder aus der U-Haft entlassen wurde, ließ ihn damals schon merken: »Die Stasi war nicht mehr dieselbe wie früher.«
AuflösungserscheinungenNeben dem Erstarken der Oppositionsgruppen wurde auch das Thema der Mangelwirtschaft in den Blick der Stasi genommen. Ein Bericht vom 6. Juni listet bis ins Letzte akribisch alles auf, was Mangelware war: von PKW-Ersatzteilen bis zur Handcreme. Gerade hier zeigt sich die Reformunwilligkeit der Parteiführung. Zwar gab es, so Stief, schon seit Mitte der 70er auch interne Stimmen gegen die Wirtschaftsweise. Diese wurden aber konsequent ignoriert. Münkel merkt dazu an, die Führung hätte keine Ahnung von Wirtschaft gehabt, sie »haben es nicht verstanden«. Auch Vorschläge der Stasi, mit der Bevölkerung in Dialog zu treten, wurden abgelehnt.
Daneben gab gibt es immer mehr Ausreiseanträge. Vor allem für das Gesundheitssystem, so ein Bericht vom 04. September, ergaben sich so Schwierigkeiten, denn mehr als 1.200 Anträge auf ständige Ausreise waren von Ärzten – ein Problem, das bereits vor dem Mauerbau bestand. Besonders in den 80ern war zudem ein Teil der gut ausgebildeten Mittelschicht ausgereist. Zu solchen Auflösungserscheinungen gehörte auch der veränderte Umgang mit der Stasi selbst.
Die Lage spitzt sich zuWie der Respekt vor der Stasi gesunken war, veranschaulicht Schwabe mit einigen Anekdoten aus seinem damaligen Umfeld. So soll ein Observierter den Stasi-Männern im Auto vorm Haus Kaffee vorbeigebracht haben (es sei eben auch »kein toller Job« gewesen). Für eine Ausstellung positionierte sich ein anderer vor einem Stasi-Amt, um die Mitarbeiter zu fotografieren; sein späteres Verhör schnitt er selbst mit einem Tonband mit. Diese »Frechheiten« seien früher undenkbar gewesen.
Währenddessen wuchs im Herbst die Zahl der Oppositionskräfte weiter an. Bei den Friedensgebeten in Leipzig zum Beispiel von anfangs 1.000 Teilnehmer*innen im September auf bis zu 160.000 Mitte Oktober. In einem Bericht vom 08. Oktober, einen Tag nach dem 40. Jahrestag, schlägt die Stasi
Auffällig bei der Akribie und Berichtswut der Stasi ist dann gerade das, was fehlt: Es gibt keinen Bericht zum Fall der Mauer. Aber auch nach diesem Ereignis hörte das Schreiben nicht auf. Noch im Dezember verfasste die Stasi Berichte – über die Besetzungen ihrer eigenen Bezirks- und Kreisämter.
Der Literaturherbst bescherte Göttingen dieses Jahr mit Wolf Biermann und den Stasi-Berichten sowohl eine Opfer- als auch eine kontextualisierte Tätersicht aus der DDR. Mit anekdotischer »Prosa-Quasselei« auf der einen und sachlichstem Beamtensprech auf der anderen Seite wurde dem Publikum ein perspektivreiches Bild dieses verlorenen Landes geboten. Man darf gespannt sein, ob das Thema im nächsten, im 30. Jahr der Deutschen Einheit noch mehr in den Fokus rücken wird. Bei der Auswahl der Gesprächsteilnehmenden dieses Jahr wurde übrigens auf beiden Bühnen die Ostquote zufriedenstellend übererfüllt.