Anke Stellings Schäfchen im Trockenen widmet sich großen Themen des 21. Jahrhunderts: Wohnungsnot, Familie, gesellschaftliche Ungleichheit. Doch leider lässt der Roman sein thematisches Potenzial größtenteils ungenutzt und bleibt stilistisch enttäuschend.
Von Hanna Sellheim
Anke Stelling nimmt sich mit Schäfchen im Trockenen viel vor: Es geht um die Wohnungsnot, um das Familienleben, um Klassenbewusstsein. Der Roman ist ein Brief der Erzählerin Resi an ihre Tochter Bea, in dem die Mutter mit ihren Freund*innen, allesamt Mitglieder der spießbürgerlichen Mittelschicht, abrechnet. Das alles sind wichtige Themen, die interessante Diskussionen anstoßen könnten, würde gut über sie geschrieben – doch das passiert hier leider nur begrenzt.
Stellings Sprache liest sich flüssig, sie hat Tempo und Witz, bleibt aber eher einfallslos. Wichtige Überlegungen werden exzessiv wiederholt, sodass man sich mehr Raffinesse bei der Komposition und eine subtilere Motivik wünscht. Die Dialoge sind größtenteils gestelzt. Sie sind voll von »Na prima!«-s und »Hab dich nicht so!«-s – Erfolgsgaranten beim Bingo jener Phrasen, die noch nie in einem echten Gespräch verwendet wurden, aber dauernd in Skripten fürs Vorabendfernsehen auftauchen. Der Text erscheint wirr, was allerdings geschickt thematisiert wird:
Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint. Ich hätte gerne mehr Stringenz, eine erkennbare Einheit, einen Trost für alle, die auf der Suche sind. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser.
In diesen metafiktionalen Momenten nutzt der Text sein Potenzial, wenn er fragt, wer öffentlich erzählen darf, und dabei auch anklagend auf den Literaturbetrieb zeigt.
Davon abgesehen tauchen so inflationär wie ungenau gebrauchte Begriffe wie »Habitus« auf – wie Habitus im Bourdieu‘schen Sinne sich bildet, wie er wirkt, wird dann allerdings nicht mit erzählerischen Mitteln gezeigt, sondern der Leserin immer wieder lieblos angerichtet auf dem Silbertablett serviert:
Dass man Parmesan aus der Tüte nicht Käse nennen darf und mit skandinavischem Design Geschmack beweist, habe ich schon als Kind von meinen aufstiegswilligen Eltern gelernt, allerdings nicht, wie man beim Tomatensoßeessen nicht kleckert.
Überhaupt ist alles geradezu übergriffig ausbuchstabiert, als traue die Autorin der Leserin nicht zu, selbst Zusammenhänge und tieferliegende Gedankengänge zu erkennen. Viel Neues kommt dabei nicht herum außer der Erinnerung daran, »wie viel Macht Wörter, Sprüche und Geschichten haben« – ein Konsens, den man woanders schon hundertmal klüger, subtiler und witziger gelesen hat, der hier aber als gewagte These verkleidet wird.
Probleme außerhalb des Prenzlauer Berg werden vergessenAuch Resis Gedanken zu Geschlecht, zu Arbeitsteilung in der Familie, zur Vermittlung von Körperbildern haben kluge Ansätze, führen aber nirgendwohin, wo nicht irgendwer anders (Virginia Woolf, Simone de Beauvoir, Margarete Stokowski) schon gewesen wäre. Munter wird stattdessen mit naiven SoWi-Grundkurs-Definitionen um sich geschmissen:
Ich bin links, also für Gerechtigkeit und Rücksichtnahme und dafür, dass jeder Mensch gleich viel wert ist und die Welt noch lange nicht so, wie sie sein soll.
Die dramatis personae heißen hier Ulf und Ingmar, Vera und Friederike, und haben Kinder mit Namen wie Mathilda, Finn oder Silas. Vorgeblich geht es um Ungerechtigkeit, um »Machtfragen«, doch in Wahrheit werden diese nur gestellt, um das Unrecht anzuklagen, das Menschen zustößt, die geringfügig weniger privilegiert sind als ihre sehr privilegierten Freund*innen – die etwa eine Hebamme bei der Hausgeburt selbst bezahlen müssen, statt sie im Krankenhaus von der Krankenkasse bezahlt zu bekommen. Man kann das sicherlich kritisieren, aber wollte man wirklich über gesellschaftliche
Aber Probleme, die abseits des Prenzlauer Berg liegen, scheinen Stelling wenig zu interessieren. Die Macht von Geschichten, die ja so redundant proklamiert wird, bezieht sich nur auf das Private. Welche Gefahr von Geschichten ausgehen kann, wenn sie politisch instrumentalisiert werden, welche Geschichten momentan gesellschaftlich auf dem Vormarsch sind und an die Macht drängen, das findet keinen Eingang ins Narrativ. Denn hier haben ja alle die Schäfchen im Trockenen, hier sind alle weiß und cis und hetero und moderat linksliberal, haben also nichts zu befürchten. Marginalisierte Personengruppen tauchen nur in Form von »den Syrern« in Nebensätzen auf. Treffsicher wird so an allem vorbei argumentiert, was tatsächlich politische Relevanz hat – ob aus Angst vor klarer Positionierung, aus Desinteresse oder aus Ignoranz, bleibt unklar. Dabei wären in einem Roman, der ja explizit einen sozialkritischen Anspruch erhebt, eine Kritik an der Mittelschicht und ein Appell an ihr politisches Bewusstsein durchaus angebracht: Denn unter den AfD-Wähler*innen befinden sich mehr gesellschaftlich Bessergestellte als bei anderen Parteien.
Spannende Ansätze, aber keine überzeugende SatireResis Überlegungen zu Klassenbewusstsein und zum Gefühl, dank der eigenen Herkunft im eigenen sozialen Umfeld immer ein wenig fremd zu sein, sind zwar durchaus spannend, sie schafft es aber nicht, die eigene Position genug zu hinterfragen. Als sei das Schlimmste, was einem zustoßen könnte, von einem Skiurlaub ausgeschlossen zu werden und sich ein Bauprojekt nicht leisten zu können. Als gäbe es keine Menschen, denen diese Welt viel grundlegendere Chancen verbaut. So ist Resis Beschreibung des »Elendscastings«, das ihre Freund*innen veranstalten, um möglichst bedürftige Nachmieter*innen für die eigene Wohnung zu finden, bissig, witzig und trifft einen aktuellen Nerv. Doch es fällt schwer, eine solche Satire überzeugend zu finden, wenn sich anderswo über die »Prollkinder« mokiert wird und die Bewohner*innen von Ahrensfelde als »Übergewichtige, in Polyester mit Aufdruck gekleidete Leute, die ihre Kinder im Buggy Red-Bull-Imitate trinken lassen und ab und zu aus Langeweile ohrfeigen« über einen Klischee-Kamm geschoren werden. Sie bleiben Objekte für den belustigten Blick der durch ihr kulturelles Kapital Überlegenen: »Resi kann ein Buch darüber schreiben: Wie‘s sich außerhalb des S-Bahn-Rings so lebt.«
Der Text gerät so geradezu unerträglich selbstgerecht. Er ist eine Anklageschrift gegen alle, denen man nicht ähneln will, obwohl man selbst eigentlich noch viel spießiger ist. Die Erzählperspektive, dieses anbiedernde Poetry-Slam-hafte »Du«, das sich an Resis 14-jährige Tochter Bea wendet, macht das nicht besser. Befeuert wird das durch die Versuche des Romans, sich edgy zu geben, indem Stilvolles wie »Halt deine Fresse, du Fotze« oder »Geht scheißen« eingearbeitet wird. Man kann das Kichern des deutschen Feuilletons förmlich hören und angesichts dieser plumpen Provokation nur müde seufzen. Hier werden die Erwartungen genau jenes Publikums mit erwartbar dosierter Nonkonformität bedient, das man ja angeblich angreifen wollte. Der Roman bietet so eine willkommene Katharsis für die bildungsbürgerlichen Massen: Man liest das Buch, fühlt sich ertappt, identifiziert sich aber bequemerweise mit der Erzählfigur, die mit dem ganzen Öko-Eigenheim-Akademiker*innen-Milieu nichts zu schaffen haben will und braucht nicht mehr zu reflektieren, welche Verantwortung man als Mitglied eben jener Klasse gesellschaftlich gerade versäumt. Die Bourgeoisie, das sind immer die anderen.
Das mag alles gewollt sein, Stelling inszeniert Resi vielleicht mit voller Absicht als unreflektierten Teil des politisch blinden Milieus, gegen das sie eigentlich anschreibt. Doch um dem Text das abnehmen zu können, ist er schlicht nicht selbstironisch genug, nimmt er sich selbst zu ernst, weist seine Erzählinstanz zu wenig Brüche auf. Stattdessen wird alles mit dem Vorschlaghammer präsentiert. So bleibt der Roman, der thematisch das Potenzial zu einer schmerzhaften Gesellschaftssatire, zu einem »J’accuse« gegen die komplizenhafte deutsche Mittelschicht durchaus gehabt hätte, enttäuschend eindimensional.