Derzeit werden Romane viel zu oft dramatisiert. Das Deutsche Theater Göttingen schlägt in die gleiche Kerbe. Und schnitzt aus Dirk Englers Bühnenfassung von Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt ein astreines Stück Regietheater.
von Christoph Heymel
Ein halbwegs anständiger Studierender der Literaturwissenschaft geht kritisch ins Theater, wird das doch in besonders hohem Maße von ihm erwartet, wenn er mit Studierenden anderer Fachrichtungen, sagen wir Medizinern, Wirtschafts- oder gar Rechtswissenschaftlern eine Vorstellung besucht. So kann ein unterhaltsamer Abend schnell zur Folter verkommen, ist man doch gezwungen, sich während des Zuschauens fortwährend das Hirn zu zermartern, wie das Gezeigte nun zu bewerten sei, denn nach der Vorstellung werden einen alle Augen ansehen und fragend eine fachkundige Sofortkritik erwarten.
Diese natürliche, ob nun durch die Begleiter erzwungene oder ja, zum Glück, doch oft auch durch eigene Neugier beflügelte kritische Haltung muss sich um 100 Prozent verschärfen, wenn auf dem Programm kein Drama, sondern eine Roman-Adaption steht. Solche gibt es in letzter Zeit im Deutschen Theater zuhauf (derzeit läuft auch noch Goethes Werther), und insgesamt spiegelt das einen Trend der letzten Jahre auf den Bühnen der Republik überhaupt wider. Doch während die Intendanten bisher versuchten, mit Theaterversionen der großen Romane von Goethe, Kafka und Thomas Mann ihre Säle zu füllen, muss nun also Daniel Kehlmann herhalten.
Bei aller Skepsis, so muss man zugeben, ist die Bühnenfassung von Dirk Engler, die 2008 in Braunschweig uraufgeführt wurde und der auch die Göttinger Inszenierung folgt, äußerst gelungen. Die für den Roman so maßgebliche und sicherlich am großen Erfolg teilhabende Erzählstimme geht auf der Bühne nicht verloren, sondern schmiedet die dargestellten Szenen immer wieder aneinander. Unter der Regie von Mark Zurmühle und einer wirklich bewundernswerten Leistung der Dramaturginnen Barbara Wendland und Stefanie Jaksch werden die schönsten Kapitel wieder aufgeschlagen und von einem kleinen Ensemble zum Besten gegeben.
Auch wenn sich die Göttinger Vermessung sehen lässt, muss nun abschließend doch noch einmal gefragt werden, warum so viele Romane gespielt und nicht gelesen (um Himmels willen auch als Hörbuch gehört) werden. Es gibt eine so riesige Zahl großartiger Dramen – von gestern wie auch von heute. Es ist an den Intendanten dieser Welt, solch gute Adaptionen wie diese hier in die Spielpläne aufzunehmen, aber neben den immer gespielten Dramatikern wie Brecht oder Lessing, auch den unbekannteren aber großen Stückeschreiber unserer Zeit ihren festen Platz einräumen. Wie nahezu immer spielt die finanzielle Seite leider die erste Geige und ein Rekordbestseller verspricht fast so gute Einspielergebnisse wie Stücke, die Stoff des Zentralabiturs sind. Doch ungeachtet dieser Bedenken ist Die Vermessung der Welt im Deutschen Theater ein Hochgenuss, den sich vor allem Fans des Romans nicht entgehen lassen sollten, auch wenn es eigentlich eine Lesung der schönsten Buchpassagen ist – jedoch mit grandios verteilten Rollen und bewegten Bildern, die zugleich wunderbar komische Metaphern auf die Romanausstattung sind. Romane auf der Bühne bitte behutsam einsetzen, die Lektüre ersetzt der Theaterbesuch jedenfalls nicht, setzt sie, in diesem Fall, sogar voraus. So aber hat Die Vermessung der Welt auch im Theater das Zeug dazu, ein nicht bloß kommerzieller Erfolg zu werden.